Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
werden, Jared?«
»Ich möchte einfach nur ein guter Mensch werden, Marc. Und du?«
»Ich möchte ein weltberühmter Schriftsteller werden und Abermillionen von Büchern verkaufen.«
Er hatte die Augen weit aufgerissen, und seine Augäpfel hatten im Dunkeln geleuchtet wie zwei Monde.
»Das schaffst du bestimmt, Marc, so cool wie du bist!«
Und ich hatte mir gesagt, dass eine Sternschnuppe ein Stern ist, der eigentlich hell am Himmel strahlen könnte, sich aber aus Angst davor lieber so weit wie möglich davonmacht. Ein bisschen so wie ich.
Donnerstags versäumten Jared und ich nie den Kurs bei einer der Schlüsselfiguren des Colleges: dem Schriftsteller Harry Quebert. Er war ein überaus beeindruckender, charismatischer Typ, eine echte Persönlichkeit und ein außergewöhnlicher Lehrer, der von Studenten wie von seinesgleichen vergöttert wurde. Quebert gab in Burrows den Ton an, alle hörten auf ihn und respektierten seine Meinung, und zwar nicht nur, weil er Harry Quebert war, DER Harry Quebert, die »Feder Amerikas«, sondern auch weil er mit seiner hochgewachsenen Gestalt, seiner natürlichen Eleganz und seiner warmen, dröhnenden Stimme eine so imposante Erscheinung war. Wenn er auf den Gängen des Colleges oder auf den Wegen des Campus unterwegs war, drehten sich alle nach ihm um und grüßten ihn. Er war enorm beliebt: Die Studenten rechneten es ihm hoch an, dass er einen Teil seiner Zeit einer so kleinen Hochschule schenkte, wo doch sicherlich ein Anruf genügt hätte, um ihm einen der angesehensten Lehrstühle des Landes zu verschaffen. Übrigens war er der Einzige im gesamten Professorenkollegium, der seine Vorlesungen im großen Hörsaal hielt, in dem ansonsten nur Diplomfeiern und Theateraufführungen stattfanden.
1998 war außerdem das Jahr der Lewinsky-Affäre, also das Jahr des präsidentiellen Blowjobs, in dem Amerika mit Entsetzen feststellte, inwieweit gewisse Verwöhndienste bereits Einzug in die höchsten Sphären des Landes gehalten hatten, und in dem unser ehrenwerter Präsident Clinton sich zu einer reumütigen Ansprache an die gesamte Nation genötigt sah, weil er sich von einer aufopferungsvollen Praktikantin sein kostbarstes Stück hatte lutschen lassen. Wenngleich nur eine Bagatelle, war die Affäre in aller Munde: Auf dem Campus gab es kein anderes Thema, und wir fragten uns spitzlippig, wie es wohl mit unserem guten Präsidenten weitergehen würde.
An einem Donnerstagmorgen Ende Oktober eröffnete Harry Quebert seine Vorlesung folgendermaßen: »Meine Damen und Herren, wir sind alle sehr erregt über das, was sich derzeit in Washington abspielt, nicht wahr? Die Lewinsky-Affäre … Stellen Sie sich vor: Seit George Washington sind in der gesamten Geschichte der Vereinigten Staaten lediglich zwei Gründe verzeichnet, die bei einem Präsidenten zu einem vorzeitigen Ende seiner Amtszeit geführt haben. Entweder er war ein notorischer Lump wie Richard Nixon, oder er ist gestorben. Bis zum heutigen Tag endete die Amtszeit von insgesamt neun Präsidenten aus einem der beiden Gründe: Nixon ist zurückgetreten, die anderen acht sind gestorben, die Hälfte davon eines gewaltsamen Todes. Doch jetzt könnte diese Liste um einen dritten Grund erweitert werden: die Fellatio, auch Oralsex, Blowjob, Blasen oder Mundverkehr genannt. Und jeder muss sich fragen, ob unser mächtiger Präsident, wenn er die Hosen herunterlässt, immer noch unser mächtiger Präsident ist. Denn genau das ist es, wonach Amerika giert: nach Geschichten über Sex und Moral. Amerika ist das Paradies für Schniedel. Und Sie werden sehen: Schon in wenigen Jahren wird sich kein Mensch mehr daran erinnern, dass Mr Clinton unserer katastrophalen Wirtschaft wieder auf die Beine geholfen, souverän mit einer republikanischen Mehrheit im Senat regiert oder es hingekriegt hat, dass Rabin und Arafat einander die Hände schütteln. Dagegen werden sich alle an die Lewinsky-Affäre erinnern, denn Blowjobs, meine Damen und Herren, bleiben im Gedächtnis haften. Nun, unser Präsident lässt sich ab und zu gern am Hobel saugen. Na und? Er ist bestimmt nicht der Einzige. Wer im Saal mag das noch?«
Bei diesen Worten machte Harry eine Pause und ließ den Blick durch den Hörsaal schweifen. Tiefes Schweigen machte sich breit: Die meisten Studenten starrten auf ihre Schuhspitzen. Jared, der neben mir saß, schloss sogar die Augen, um Harrys Blick nicht zu begegnen. Nur ich hob die Hand. Ich saß in einer der hintersten Reihen. Harry zeigte
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