Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
nicht, und es war mit nichts zu vergleichen: Sie fühlte sich anders, glücklicher. Die Tage kamen ihr schöner vor. Und vor allem: Wenn er hier war, spürte sie, wie ihr Herz höherschlug.
Nach der Begegnung am Strand waren sie sich noch zweimal über den Weg gelaufen: vor dem Laden in der Hauptstraße und im Clark’s, wo sie samstags kellnerte. Und jedes Mal war etwas Besonderes zwischen ihnen gewesen. Danach war er dazu übergegangen, jeden Tag zum Schreiben ins Clark’s zu kommen, was Tamara Quinn, die Besitzerin des Lokals, nach einigen Tagen veranlasst hatte, ihre »Mädels«, wie sie ihre Kellnerinnen nannte, am Spätnachmittag zu einer dringlichen Besprechung zusammenzutrommeln. Bei dieser Gelegenheit hatte sie auch die fragliche Dienstanweisung präsentiert. »Meine Damen«, hatte Tamara Quinn zu ihren Angestellten gesagt, die sie wie Soldatinnen hatte antreten lassen, »ihr habt sicher bemerkt, dass der große New Yorker Schriftsteller Harry Quebert jeden Tag hierherkommt, was beweist, dass dieses Lokal es in puncto Stil und Qualität mit den besten Restaurants der Ostküste aufnehmen kann. Das Clark’s besitzt ein gewisses Niveau. Wir müssen zeigen, dass wir auch den Erwartungen unserer anspruchsvollsten Gäste gerecht werden. Da das Gehirn von einigen von euch nicht viel größer als eine Erbse ist, habe ich eine Dienstanweisung verfasst, die euch daran erinnern soll, wie ihr Mr Quebert zu behandeln habt. Ihr sollt sie lesen, lesen und noch mal lesen, bis ihr sie auswendig könnt! Ich werde euch spontan abfragen. Die Anweisung wird in der Küche und hinter der Theke aufgehängt.«
Tamara Quinn hatte ihre Richtlinien noch weiter klar und deutlich erläutert: Mr Quebert sei vor allem nicht zu stören, er brauche Ruhe, um sich zu konzentrieren. Kompetenz sei gefragt, damit er sich wie zu Hause fühle. Die Statistik seiner bisherigen Besuche zeige, dass er den Kaffee immer schwarz trinke: Ihm sei daher beim Eintreffen Kaffee ohne alles zu bringen. Wenn Mr Quebert etwas anderes brauche, wenn er zum Beispiel Hunger habe, werde er sich schon melden. Er sei nicht zu belästigen und zum Konsum zu drängen wie die anderen Kunden. Wenn er etwas zu essen bestelle, seien ihm gleich sämtliche Gewürze und Zutaten, also Senf, Ketchup, Mayonnaise, Pfeffer, Salz, Butter, Zucker und Ahornsirup, zu bringen, damit er nicht nach ihnen verlangen müsse. Große Schriftsteller sollten nichts verlangen müssen: Sie müssten den Kopf frei haben, um in Ruhe arbeiten zu können. Vielleicht sei das Buch, an dem er schreibe, seien die Notizen, die er in all den Stunden am immer selben Platz anfertige, ja der Auftakt zu einem gewaltigen Meisterwerk – dann wäre das Clark’s schon bald im ganzen Land ein Begriff.
Tamara Quinn träumte davon, dass das Buch ihrem Restaurant zu dem Bekanntheitsgrad verhelfen würde, der ihr vorschwebte. Von den Einnahmen würde sie ein zweites Lokal in Concord sowie später weitere in Boston, New York und sämtlichen großen Küstenstädten bis hinunter nach Florida eröffnen.
Mindy, eine der Kellnerinnen, hatte um eine zusätzliche Erklärung gebeten: »Aber, Mrs Quinn, wie können wir sicher sein, dass Mr Quebert wirklich nur schwarzen Kaffee möchte?«
»Weil ich es weiß, basta. In guten Restaurants müssen wichtige Gäste nicht bestellen: Das Personal kennt ihre Gewohnheiten. Sind wir ein gutes Restaurant?«
»Ja, Mrs Quinn«, hatten die Kellnerinnen unisono erwidert. »Ja, Mom«, hatte Jenny gebrüllt, weil sie ihre Tochter war.
»Nenn mich hier nicht mehr ›Mom‹«, hatte Tamara angeordnet. »Das klingt zu sehr nach Landgasthof.«
»Wie soll ich dich dann nennen?«, hatte Jenny gefragt.
»Du sprichst mich gar nicht an, sondern nimmst meine Anweisungen entgegen und nickst ergeben. Sprechen ist nicht nötig. Verstanden?«
Statt einer Antwort hatte Jenny genickt.
»Verstanden oder nicht?«, hatte ihre Mutter nachgefragt.
»Aber ja, ich habe verstanden, Mom. Ich nicke, und zwar so …«
»Ah, sehr gut, mein Schatz. Siehst du, wie schnell du lernst? Und jetzt ihr, Mädels: Ich möchte die ergebene Miene bei euch allen sehen! Na also … sehr schön … Und jetzt nicken … Ja … Genau so … Von oben nach unten … Sehr gut, man könnte meinen, wir wären im Château Marmont.«
Tamara Quinn war nicht die Einzige, die Harry Queberts Anwesenheit in Aurora in helle Aufregung versetzte: Die ganze Stadt war in Aufruhr. Einige behaupteten, er wäre in New York ein richtiger Star, was
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