Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
andere bestätigten, um nicht als ungebildet dazustehen. Erne Pinkas, der in der Gemeindebücherei mehrere Exemplare seines ersten Romans ausgelegt hatte, meinte zwar, von einem Schriftsteller namens Quebert habe er noch nie gehört, aber wer gab schon etwas auf die Meinung eines Fabrikarbeiters, der von der New Yorker High Society keine Ahnung hatte? In einem Punkt waren sich alle einig: Nicht jeder konnte es sich leisten, das prachtvolle Haus in Goose Cove zu beziehen, das jahrelang leer gestanden hatte.
Noch ein anderes Thema erregte die Gemüter, und dieses betraf die jungen Frauen im heiratsfähigen Alter und letztendlich auch deren Eltern: Harry Quebert war Junggeselle. Er war also noch zu haben und aufgrund seiner Bekanntheit, seines Intellekts, seines Vermögens und seines sehr angenehmen Äußeren als künftiger Ehemann sehr begehrt. Das Personal des Clark’s hatte schnell spitzgekriegt, dass die vierundzwanzigjährige Jenny, eine hübsche, sinnliche Blondine und Excheerleaderin der Highschool von Aurora, in Harry verschossen war. Jenny, die unter der Woche den Service machte, war die Einzige, die sich unverhohlen über die Dienstanweisung hinwegsetzte: Sie schäkerte mit Harry, plauderte immerzu mit ihm, unterbrach ihn bei der Arbeit und brachte ihm nie alle Gewürze auf einmal. Nur an den Wochenenden arbeitete Jenny nicht. Samstags war Nola da.
Der Koch tippte auf die Serviceklingel und riss Nola aus ihren Tagträumereien: Harrys Toasts waren fertig. Nola stellte den Teller auf ihr Tablett. Bevor sie in den Speisesaal zurückging, schob sie ihre goldene Haarspange zurecht, dann stieß sie voller Stolz die Tür auf. Seit zwei Wochen war sie verliebt.
Sie brachte Harry seine Bestellung. Das Clark’s füllte sich allmählich.
»Guten Appetit, Mr Quebert«, sagte sie.
»Nenn mich Harry …«
»Nicht hier«, murmelte sie. »Das würde Mrs Quinn nicht gefallen.«
»Sie ist nicht da. Niemand wird es erfahren …«
Nola deutete mit dem Kinn auf die anderen Gäste und steuerte auf deren Tische zu.
Harry biss in seinen Toast und kritzelte ein paar Zeilen auf sein Papier, dann schrieb er das Datum darüber: Samstag, 14. Juni 1975 . Er füllte Seite um Seite, ohne wirklich zu wissen, was er da zusammenschrieb. In den drei Wochen, die er nun schon hier war, hatte er es nicht geschafft, mit seinem Roman anzufangen. Seine Einfälle waren nur flüchtig und hatten zu nichts geführt, und je mehr er sich abmühte, umso weniger kam dabei heraus. Er hatte das Gefühl, ganz langsam zu versinken, und spürte, dass ihn die schrecklichste Geißel heimsuchte, die Menschen seines Berufsstands befallen konnte: Er hatte sich die Schriftstellerkrankheit zugezogen. Die panische Angst vor den weißen Seiten hatte ihn mit jedem Tag fester im Griff, und er begann bereits daran zu zweifeln, ob er das Richtige getan hatte: Er hatte seine gesamten Ersparnisse geopfert, um dieses beeindruckende Haus am Meer bis September mieten zu können, ein Schriftstellerhaus, wie er es sich immer erträumt hatte – aber wozu den Autor spielen, wenn er nicht wusste, was er schreiben sollte? Beim Abschluss des Mietvertrags war ihm sein Plan noch unfehlbar vorgekommen: einen verflixt guten Roman schreiben und ihn bis September weit genug vorantreiben, um die ersten Kapitel mehreren großen New Yorker Verlagen vorlegen zu können, die sich vor Begeisterung um die Rechte schlagen würden. Man würde ihm einen hübschen Vorschuss anbieten, damit er das Buch fertig schreiben konnte. Seine finanzielle Zukunft wäre gesichert, und er würde der Star werden, der er immer hatte sein wollen. Doch schon jetzt hatte sein Traum einen bitteren Beigeschmack bekommen: Er hatte noch keine einzige Zeile zu Papier gebracht. Wenn er so weitermachte, würde er im Herbst ohne Geld und ohne Buch nach New York zurückkehren, den Schulleiter der Highschool, an der er früher gearbeitet hatte, beknien, ihn wieder aufzunehmen, und den Ruhm ein für alle Male vergessen müssen. Und wahrscheinlich würde er sich zusätzlich eine Arbeit als Nachtwächter suchen müssen, um wieder etwas Geld auf die hohe Kante legen zu können.
Er betrachtete Nola, die sich strahlend mit anderen Gästen unterhielt. Als er sie lachen hörte, schrieb er:
Nola, Nola, Nola, Nola, Nola.
N-O-L-A. N-O-L-A.
N-O-L-A . Vier Buchstaben, die seine Welt auf den Kopf gestellt hatten. Nola, diese zierliche Person, die ihm, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte, den Kopf verdreht hatte. N-O-L-A . Zwei
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