Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Fenster ab. Er versuchte sich vorzustellen, in welchem Zimmer sie schlief. N-O-L-A . Allerliebste Nola. Lange stand er dort. Plötzlich glaubte er ein Geräusch zu hören und wollte das Weite suchen, doch dabei stieß er die metallenen Mülleimer mit lautem Getöse um. Im Haus ging Licht an, und Harry ergriff die Flucht. Er kehrte nach Goose Cove zurück, setzte sich an den Schreibtisch und versuchte zu schreiben. Es war Anfang Juli, und er hatte immer noch nicht mit seinem großen Roman begonnen. Was sollte nur aus ihm werden? Was würde passieren, wenn er nichts zu Papier brachte? Er würde wieder zu seinem unglücklichen Leben zurückkehren. Er würde nie ein Schriftsteller sein. Er würde gar nichts sein. Zum ersten Mal spielte er mit dem Gedanken, sich umzubringen. Gegen sieben Uhr morgens schlief er, den Kopf auf seinen durchgerissenen, von Streichungen wimmelnden Entwürfen, am Schreibtisch ein.
Mittags um halb eins klatschte sich Nola auf der Personaltoilette des Clark’s Wasser ins Gesicht, weil sie hoffte, dass dadurch die Rötung in ihren Augen wegging. Sie hatte den ganzen Vormittag geweint. Es war Samstag, und Harry war nicht gekommen. Er wollte sie nicht mehr sehen. Die Samstage im Clark’s waren ihr allwöchentliches Rendezvous: Zum ersten Mal hatte er darauf verzichtet. Beim Aufwachen war sie noch optimistisch gewesen: Sie hatte sich gesagt, dass er sie wegen seines gemeinen Verhaltens bestimmt um Entschuldigung bitten und sie ihm natürlich verzeihen würde. Die Vorstellung, ihn wiederzusehen, hatte ihre Stimmung gehoben, und als sie sich fertig machte, hatte sie ihm zu Gefallen sogar etwas Rouge aufgelegt.
Doch am Frühstückstisch hatte ihre Mutter ihr schwere Vorwürfe gemacht. »Nola, ich will wissen, was du mir verheimlichst.«
»Ich verheimliche dir nichts, Mutter.«
»Lüg deine Mutter nicht an! Glaubst du etwa, ich merke nichts? Hältst du mich für so dumm?«
»Aber nein, Mutter! So etwas würde ich nie denken!«
»Glaubst du, ich merke nicht, dass du ständig unterwegs bist, gute Laune hast und dich schminkst?«
»Ich tue nichts Böses, Mutter, ich verspreche es.«
»Glaubst du, ich weiß nicht, dass du mit dieser liederlichen kleinen Nancy Hattaway nach Concord gefahren bist? Du bist ein ungezogenes Mädchen, Nola! Du machst mir Schande!«
Reverend Kellergan hatte sich aus der Küche verdrückt und in der Garage verkrochen. Das machte er immer, wenn es Ärger gab, denn er wollte nichts davon wissen. Und er hatte seinen Plattenspieler angeschaltet, um die Schläge nicht zu hören.
»Mutter, ich verspreche dir, dass ich nichts Böses tue«, hatte Nola noch einmal beteuert.
Louisa Kellergan hatte ihre Tochter mit einer Mischung aus Abscheu und Verachtung betrachtet. Dann hatte sie höhnisch gelacht und gesagt: »Nichts Böses? Du weißt, warum wir aus Alabama weggezogen sind … Du weißt es, oder? Soll ich dein Gedächtnis auffrischen? Komm mit!«
Sie hatte sie am Arm gepackt und hinter sich her in ihr Zimmer gezogen. Dort hatte sie ihr befohlen, sich auszuziehen. Zitternd vor Angst, hatte Nola in Unterwäsche vor ihr gestanden.
»Warum trägst du einen BH ?«, wollte Louisa Kellergan wissen.
»Weil ich einen Busen habe, Mutter.«
»Du solltest noch keinen Busen haben! Dafür bist du noch zu jung! Zieh den BH aus, und komm her!«
Nola hatte den Büstenhalter ausgezogen und war zu ihrer Mutter getreten, die sich ein Eisenlineal vom Schreibtisch ihrer Tochter gegriffen hatte.
Zuerst hatte sie Nola von oben bis unten taxiert, dann hatte sie das Lineal gehoben und ihr damit auf die Brustwarzen geschlagen. Sie hatte mehrmals sehr fest zugeschlagen, und weil ihre Tochter sich vor Schmerzen krümmte, hatte sie ihr befohlen stillzuhalten, wenn sie nicht noch mehr abbekommen wollte. Bei jedem Schlag hatte Louisa ihr eingebläut: »Man lügt seine Mutter nicht an. Man darf kein böses Mädchen sein, verstanden? Hör auf, mich für dumm zu verkaufen!« Aus der Garage dröhnte in voller Lautstärke Jazzmusik.
Nola hatte es nur deshalb geschafft, ihren Dienst im Clark’s anzutreten, weil sie wusste, dass sie Harry dort treffen würde. Er allein gab ihr die Kraft zum Leben, ja, für ihn wollte sie leben. Aber er war nicht gekommen. Am Boden zerstört, hatte sie sich den ganzen Vormittag auf der Toilette verkrochen und geweint. Sie sah sich im Spiegel an, hob die Bluse hoch und betrachtete ihre misshandelten Brüste: Sie waren mit blauen Flecken übersät. Sie sagte sich, dass ihre
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