Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
erzählen, solange ich keine handfesten Beweise hatte. Roth dagegen zog ich ins Vertrauen, weil mir schien, dass dieser Sachverhalt von entscheidender Bedeutung für Harrys Verteidigung sein konnte.
»Nola Kellergan hatte ein Verhältnis mit Elijah Stern?« Roth blieb am Telefon fast die Luft weg.
»Sie haben richtig gehört! Ich weiß es aus verlässlicher Quelle.«
»Gute Arbeit, Marcus. Wir rufen Stern in den Zeugenstand, beschuldigen ihn und drehen den Spieß um. Stellen Sie sich die Gesichter der Geschworenen vor, wenn Stern ihnen nach dem Eid auf die heilige Bibel die prickelnden Details seiner Bettgeschichte mit der kleinen Kellergan erzählt!«
»Bitte sagen Sie Harry nichts. Nicht, bis ich mehr über Stern weiß.«
Noch am selben Nachmittag fuhr ich zum Gefängnis, wo Harry mir Nancy Hattaways Worte bestätigte.
»Nancy Hattaway hat mir erzählt, dass Nola geschlagen wurde«, sagte ich.
»Oh, Marcus, das war eine schlimme Geschichte …«
»Sie hat mir auch erzählt, dass Nola Anfang des Sommers sehr traurig und melancholisch wirkte.«
Harry nickte betrübt. »Ich habe Nola sehr unglücklich gemacht, als ich sie zurückgewiesen habe. Das hat zu einer schrecklichen Katastrophe geführt. Am Wochenende nach dem Nationalfeiertag, also nachdem ich mit Jenny in Concord ausgegangen war, haben mich meine Gefühle für Nola völlig überwältigt. Deshalb musste ich mich unter allen Umständen von ihr fernhalten und beschloss, am Samstag, den 5. Juli, nicht ins Clark’s zu gehen.«
Während ich Harrys Bericht über das verheerende Wochenende vom 5. und 6. Juli 1975 aufnahm, wurde mir klar, dass sein Buch Der Ursprung des Übels seine Geschichte mit Nola detailiert wiedergab, indem es die Erzählung mit Auszügen aus dem echten Briefwechsel verwob. Harry hatte also, was die beiden betraf, nie etwas verheimlicht, sondern vielmehr diese unmögliche Liebesgeschichte von Anfang an ganz Amerika gestanden. Irgendwann unterbrach ich ihn mit den Worten: »Aber, Harry, das steht doch alles in Ihrem Buch!«
»Ja, Marcus, alles. Aber das wollte niemand wahrhaben. Alle haben großartige Textanalysen betrieben und etwas von Allegorien, Symbolen und Stilfiguren gefaselt, die ich überhaupt nicht beherrsche. Dabei hatte ich einfach nur ein Buch über Nola und mich geschrieben.«
Samstag, 5. Juli 1975
Halb fünf Uhr früh. Rhythmisch hallten seine Schritte in den menschenleeren Straßen der Stadt wider. Er dachte nur noch an sie. Seit er beschlossen hatte, dass er sie nicht mehr sehen durfte, konnte er nicht mehr schlafen. Er erwachte noch vor dem Morgengrauen und konnte nicht wieder einschlafen. Dann zog er seine Sportsachen an und ging joggen. Er lief am Strand entlang, jagte den Möwen nach, folgte ihrer Flugbahn und trabte weiter bis nach Aurora. Von Goose Cove aus waren es gut fünf Meilen; er legte sie schnell wie ein Pfeil zurück. Wenn er die Stadt einmal ganz durchquert hatte, lief er, gehetzt, als wäre er auf der Flucht, gewöhnlich ein Stück in Richtung Massachusetts weiter, und machte am Grand Beach Pause, um sich den Sonnenaufgang anzusehen. Aber als er an diesem Morgen durch das Viertel rund um die Terrace Avenue kam, verlangsamte er den Schritt, um zu Atem zu kommen, und marschierte schweißgebadet und mit pochenden Schläfen zwischen den Häuserreihen hindurch.
Dabei kam er auch am Haus der Quinns vorbei. Der gestrige Abend mit Jenny war mit Sicherheit der langweiligste gewesen, den er je erlebt hatte. Jenny war ganz wunderbar, aber sie brachte ihn weder zum Lachen noch zum Träumen. Die Einzige, die ihn träumen ließ, war Nola. Er ging die Straße weiter entlang, bis er vor dem verbotenen Haus stand: dem Haus der Kellergans, in dessen Nähe er Nola am Vorabend, in Tränen aufgelöst, abgesetzt hatte. Er hatte sich bemüht, ihr die kalte Schulter zu zeigen, damit sie es begriff, aber sie hatte überhaupt nichts begriffen. Sie hatte gefragt: »Warum tun Sie mir das an, Harry? Warum sind Sie so gemein?« Den ganzen Abend musste er an sie denken. Beim Essen in Concord hatte er sich sogar für einen Augenblick entschuldigt, um sie von einer Telefonzelle aus anzurufen. Er hatte die Dame von der Vermittlung gebeten, ihn mit den Kellergans in Aurora in New Hampshire zu verbinden, doch kaum hatte er das Freizeichen gehört, hatte er aufgelegt. Als er an den Tisch zurückgekehrt war, hatte Jenny ihn gefragt, ob er sich nicht wohlfühle.
Regungslos stand er nun auf dem Gehsteig und suchte mit den Augen die
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