Die Wahrheit über Marie - Roman
Windböen drückten uns von der Straße auf den Seitenstreifen. Ich beschleunigte weiter und sah beim Vorbeifahren, wie die Sträucher am Straßenrand sich krümmten und die Zweige sich im Licht der Scheinwerfer hin und her bogen, das Gestrüpp erzitterte und sich wölbte. Mit nacktem Oberkörper saß ich hinter dem Lenkrad, die Augen gerade nach vorn gerichtet, wirr, vom monotonen Abspulen der Straße wie hypnotisiert. Auch als mir ein Fahrzeug entgegenkam, ging ich nicht vom Gas herunter, blendete auch nicht ab, unsere Kotflügel berührten sich leicht, ich kam von der Straße ab, wurde hin und her geschüttelt auf dem Splitt am Rand des Abgrunds. In der Ferne erkannte ich die dunklen Umrisse der mächtigen Felswand, die an der Küste mit ihren gefalteten Abhängen schroff ins Meer abfiel, wie versteinerte Abbilder von Modellen aus Maries Haute-Couture-Kollektion, mit ihren bizarr geformten Drapierungen, ihren Fältungen, übereinanderliegenden Schichtungen, ihren vertikalen Kanten und Felsaufbauschungen, so wie hier der Wind sie geformt und der Sturm sie ausgehöhlt hatte. Ich hörte das Meer unter mir donnern, schwarz, riesig, stürmisch brauste es in wütendem Schäumen, ich fuhr weiter entlang der gezackten Küste, im Schlepptau jenes Gefolge geisterhafter Kleider aus vulkanischem Gestein, lava- oder magmafarbene Kleider, in denen sich die Finsternis des Basalts mit dem metamorphen Gestein vereinigt, eine Kombination aus Granit und Porphyr, Ophiolith, Cipollin und Kalkstein, Pailletten aus Mica und Adern aus Obsidian.
Marie saß zusammengesunken neben mir in ihrem Sitz, niedergeschlagen, mit leerem Blick, willenlos wurde ihr Körper durchgeschüttelt, ihre Schultern schaukelten von links nach rechts im Rhythmus der Kurven. Ihr T-Shirt war schwarz von Rauch, befleckt mit Erde, Gras, Staub und Fingerabdrücken, an vielen Stellen hatten sich Asche und Glut wie ausgebrannte Augenringe in den Stoff gebohrt. Sie trug nur noch eine Sandale, Rußschlieren überdeckten das grüne Plastik des Zehenriemchens, die Margerite war kohlschwarz, moribund und restlos entblättert. Das T-Shirt hing ihr quer über den Körper, eine Schulterseite und die Schenkel waren entblößt, aber ihre Nacktheit hatte nichts von ihrer sonstigen Unbekümmertheit, nichts Leichtes, ihr Köper war übel zugerichtet, es musste für sie demütigend sein, ohne Slip hier im Wagen zu sitzen. Marie liebte es, nackt herumzulaufen, aber Nacktheit passte zum Meer und zur Luft und eben nicht zum Feuer, das sie unangenehm, wenn nicht unerträglich werden lässt. Ich durchwühlte schnell das Handschuhfach, fand aber nichts, was ihre Nacktheit ausreichend hätte bedecken können. Ich fuhr langsamer, hielt an einem Felsvorsprung an, der über das Meer ragte. Ich hatte einige Schwierigkeiten, aus dem Auto zu steigen, da der Wind mit aller Kraft gegen die Tür wehte, sodass das Blech ächzte, ich musste mich schließlich durch einen schmalen Spalt aus dem Auto zwängen. Ich machte einige Schritte im stürmischen Wind, zog erst meine Hose und dann meine Boxershorts aus. Und stand nackt da, vor dem Abgrund, im grellen Licht der Scheinwerfer. Ich nahm Maries Silhouette im Wagen wahr, sah unter mir das Meer, sah die vom Wind wild gepeitschten Schatten der Vegetation. Dann zog ich meine Hose wieder an, zerrte die Autotür gegen den Wind auf, quetschte mich schnell in den Wagen und hielt Marie meine Boxershorts hin (da, zieh das an, sagte ich, du wirst begeistert sein). Marie blickte erst verständnislos auf meine Boxershorts, und dann lächelte sie mich an, schenkte mir ein schüchternes Lächeln der Dankbarkeit. Sie nahm die Boxershorts und streifte sie über, während ich wieder in die Nacht hinein startete.
Etwas weiter musste ich anhalten, weil die Straße gesperrt war, aufblitzende Blaulichter drehten sich lautlos in der Nacht. Ich stieg aus dem Wagen und ging zu der kleinen Menschenansammlung hinüber, die sich auf der Straße um die Feuerwehrwagen herum gebildet hatte, Marie, die wieder eingeschlafen war, ließ ich in dem alten Lieferwagen zurück. Das Feuer konnte nicht mehr weit sein, man sah schon den orangefarbenen Lichtschimmer im Unterholz oberhalb der Straße, Funken stoben hier und da empor. Die Feuerwehrmänner hatten eine Feuerspritze in Stellung gebracht, die mitten auf der Straße Wasser verlor, etwa ein Dutzend Camper beobachteten sie schweigend hinter einer Sicherheitsabsperrung, die Helfer des Roten Kreuzes aufgestellt hatten. Sie mussten vom
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