Die Wahrheit über Marie - Roman
bezweifele, dass es das war, was sie mir sagen wollte. Nein. Marie schien es ernst zu sein, sie wirkte bewegt, und der Klang ihrer Stimme hatte etwas von der schmerzhaften Feierlichkeit eines Geständnisses oder eines Bekenntnisses. Ich blickte sie weiter an und fragte mich, warum sie das Bedürfnis verspürt hatte, mir heute zu sagen, dass sie nicht seine Geliebte war (was übrigens nicht hieß, dass sie es nicht einmal gewesen war , durch seine Vieldeutigkeit machte das Imperfekt, das sie verwandt hatte – statt des Plusquamperfekts –, diese kleine Lüge aus Unterlassung durchaus möglich). Vielleicht wollte sie mich bloß wissen lassen, dass sie keine richtige Beziehung zu ihm gehabt hatte, dass sie immer das Gefühl gehabt hatte, frei geblieben zu sein, und dass sie in keinem Fall als Geliebte eines verheirateten Mannes angesehen werden konnte, dass es in gewisser Weise das Wort »Geliebte« in seiner gesellschaftlichen Bedeutung als »Mätresse« war und weniger dessen private Realitäten, das sie zurückwies, indem sie leugnete, dass das Wort auf sie angewandt werden könne, da es die Wirklichkeit, mit der es sich deckte, nicht gegeben hatte. Ich weiß es nicht. Oder hatte sie mir nur sagen wollen, dass sie ihn in ihrem tiefsten Inneren nicht liebte, ihn nie geliebt hatte, dass er ihr sicherlich gefallen hatte, dass er ohne Zweifel im richtigen Moment gekommen war, dass sie seine Höflichkeit, seine Zuvorkommenheit, seine Galanterie und sein Durchsetzungsvermögen geschätzt hatte, dass das Leben mit ihm einfach gewesen war, Komfort und Sicherheit geboten hatte – aber dass es immer einen anderen gegeben habe, den sie liebte.
Marie und ich verbrachten eine Woche gemeinsam auf Rivercina, unsere Spiele der unsichtbaren Annäherungen vervielfältigten sich im Versuch, uns wiederzufinden, unsere Wege kreuzten sich im Vorübergehen im Erdgeschoss des Hauses, mit Badehandtüchern über den Schultern warfen wir uns verführerisch schimmernde Blicke zu, wir trafen uns in den Gärten des Besitzes, keinen Moment wichen wir weiter als notwendig von dem anderen, um schnell wieder zu ihm zurückfinden zu können. Im Laufe der Tage verringerte sich unerbittlich die Distanz zwischen unseren Körpern, wurde immer kleiner, nahm von Stunde zu Stunde ab, so als ob die Kluft eines Tages sich notwendig würde schließen müssen. Wir streiften uns sachte im Kerzenschein auf der Terrasse beim Abräumen des Tisches, und unsere Schatten wichen einander in der Nacht nicht aus, beharrten im Gegenteil, suchten die sanften und verborgenen Berührungen. Manchmal, am Abend in der Küche, während wir unser Abendessen zubereiteten und ich mit einem hölzernen Kochlöffel in der Hand die Tomatensauce überwachte, die auf dem alten Gasherd köchelte, tauchte Marie hinter meinem Rücken auf, und ich konnte die stille Woge ihres Körpers an meinem spüren, ihren nackten Arm, wie er mich sanft streifte, als sie die Sauce mit ein paar Salbeiblättern würzte, die sie in dem kleinen Garten gesammelt hatte, manchmal fuhren sogar ihre Finger über meine Wange und spielten mit meinem Dreitagebart, mich leise tadelnd, mich nicht rasiert zu haben. Ich nahm ihre Hand und zog sie von meiner Wange weg und überlegte, dass eben diese Geste des Die-Hand-Nehmens eine sehr unterschiedliche Bedeutung haben kann, je nachdem, ob man sie ohne viel Aufhebens und Geziere im normalen Alltag praktiziert oder ob man eine bestimmte Absicht, einen plötzlichen, tiefer gehenden Blick damit verbindet und die Geste dann ganz langsam ausführt, sie betont, um ihr eine besondere Wichtigkeit zu verleihen, so wie ich es getan habe an jenem Abend in der Küche, als ich von einem jähen Impuls ergriffen wurde und ihr, ohne mir vorher etwas dabei gedacht oder es geplant zu haben, ohne die geringste Ahnung, wohin es führen würde, die Hand entgegenstreckte und ihr dabei fest in die Augen blickte, die Hand und der Blick, beides für einen langen Augenblick in der Schwebe der Zeit. Sie trug ein weites weißes, noch nasses Hemd und hatte ihre alten, rührenden Sandalen an den Füßen, an denen eine der beiden Margeriten wie gerupft aussah, als hätte sie sich im Staub eines Feldweges aufgelöst oder wäre mit träumerisch-unsteter Hand zwischen Maries Zehen entblättert worden (er liebt mich, er liebt mich von Herzen, mit Schmerzen). Ein schwerer Schatten durchquerte den Blick Maries, sie wurde nachdenklich, kam zu mir und schlüpfte an meinen Körper, wir blieben einen
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