Die Wahrheit über Marie - Roman
hier alles noch so wie früher, als ich die Wohnung verlassen hatte. Ich erkannte meine Kommode, die immer noch an ihrem Platz stand, zweifellos waren meine Kleider noch darin, ich hatte noch nicht die Zeit gehabt, alle meine Sachen in meine neue Wohnung zu bringen. Ich hockte mich vor das Möbel, öffnete die Schubladen und warf einen Blick auf die Kleidungsstücke, ein Durcheinander von Pullovern, Hemden, Pyjamas, eine armselige alte Badehose mit ausgeleiertem Gummi. Ich suchte mir ein Hemd heraus und Unterwäsche zum Wechseln, legte beides auf einen Stuhl und begann mich umzuziehen.
Marie hatte notdürftig das Bett gemacht, sich dann an eine Wand gesetzt und dort im Halbdunkel eine Zigarette geraucht, ihre Beine formten ein Z unter ihrem XL-T-Shirt. Sie hatte nur noch eine einzige Lampe in der Nähe des Bettes brennen lassen, die so gut wie nichts beleuchtete. Sie blieb lange schweigend und niedergeschlagen sitzen, ließ die Augen ins Leere schweifen, bevor sie stockend begann, mir von Jean-Christophe de G. zu erzählen, mit verhaltener Stimme, ohne mich dabei anzusehen, immer wieder einen Zug von ihrer Zigarette nehmend, sie erzählte mir, wie sie ihn Anfang des Jahres bei der Vernissage ihrer Ausstellung im Contemporary Art Space von Shinagawa kennengelernt hatte, sie erzählte mir von seinen beruflichen Aktivitäten, es waren nicht wenige, er war sowohl in der Welt der Geschäfte wie in der der Kunst unterwegs, sie sagte dann, sie habe ihn nach ihrer Rückkehr aus Japan ein paarmal in Paris getroffen, drei- oder viermal in den ersten Monaten, danach in größeren Abständen, sie hätten ein Wochenende in Rom verbracht, sich aber nicht näher kennengelernt, nicht wirklich. Marie erklärte mir all das, ohne sich einen Gedanken darüber zu machen, wie schmerzlich diese Mitteilungen für mich sein mochten, aber ich sagte nichts, ich stellte keine Fragen. Während ich ihr zuhörte, zog ich mir Jackett und Hemd aus und rieb mir den Rücken mit einem großen weißen Badehandtuch trocken. Ich streifte meine Hose hinunter, der Stoff klebte an der Haut meiner Schenkel, ich hatte einige Mühe damit, dann zog ich meine Boxershorts aus, ließ sie vor mir auf den Boden fallen. Marie redete weiter, man spürte, wie sehr sie das Bedürfnis hatte zu reden, sich jemandem anzuvertrauen, die Ereignisse dieser Nacht noch einmal auf bestimmte Vorzeichen hin durchzugehen, die sie hätten warnen müssen, eine allgemeine Müdigkeit, Atemnot, Schwindel, ein erstes Unwohlsein, das er im Restaurant gezeigt hatte. Ich stand nackt da im Halbdunkel und hörte nicht mehr richtig zu, trocknete mir Nacken und Hüften, fuhr mit dem Badetuch über die Schenkel, rieb mich zwischen den Beinen (und ich leugne es nicht, es war sehr angenehm).
Als ich so mit nackten Beinen auf dem Parkett stand und mein Hemd zuknöpfte, fiel mein Blick auf mein Bild in dem Spiegel über dem Kamin, einem dieser typischen vergoldeten Pariser Spiegel, mit dekorativer Flamme auf dem Kopfteil und jener Zierleiste aus Gips, die ein Geflecht ineinander verschlungener Blätter darstellt. Ich machte einen Schritt vorwärts und beobachtete, wie mein Körper sich im Einklang mit mir in den patinösen Tiefen des an manchen Stellen geschwärzten, gefleckten und gesprenkelten Spiegels bewegte, mein Gesicht blieb unsichtbar, verschluckt von der Dunkelheit. Das Zimmer um mich herum verschmolz mit der Finsternis, man erriet allenfalls die verschwommenen Umrisse von Möbeln, den Schreibtisch von Marie, auf dem der noch eingeschaltete Computer stand. Ich sah mich dort, ohne Gesicht, in dem Zimmer, in dem ich fast sechs Jahre gelebt hatte. Marie saß noch immer am anderen Ende des Betts. Von dort, wo ich war, hörte ich nur ihre Stimme, eine monotone, abwesende Stimme, die mir erklärte, dass Jean-Christophe de G. verheiratet und dies der Grund gewesen sei, warum sie nicht mit der Ambulanz habe mitfahren wollen, aus Diskretion gewissermaßen, damit man seine Frau benachrichtigen konnte, sobald er im Krankenhaus eingetroffen war. Jetzt aber fragte sie sich, wie sie etwas über seinen Zustand in Erfahrung bringen sollte, sie wusste ja nicht einmal, in welches Krankenhaus man ihn gebracht hatte.
Ich durchquerte das Schlafzimmer und holte mir die Flasche Grappa, die auf dem Kaminsims stand. Marie schaute zu mir auf, und ich sah, wie ihr Gesicht augenblicklich einen anderen Ausdruck annahm. Ihr Verhalten hatte sich vollständig verändert, ihre Niedergeschlagenheit wich abrupt einem
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