Die Wahrheit über Marie - Roman
einer Sauerstoffmaske. Der Körper war leblos, der Oberkörper entblößt, ein schwarzes Jackett war quer über die Trage geworfen worden, ein Aktenkoffer hing an einer der Haltestangen. Ich verharrte reglos auf dem Trottoir, als ich plötzlich eine nicht greifbare, immaterielle Präsenz spürte. Ich hob den Kopf und sah sie, Marie, oben am Fenster des zweiten Stocks auf die Ellenbogen gestützt, den Blick starr auf die Tragbahre gerichtet, und da begriff ich die Situation sofort. Schlagartig wusste ich, und das mit aller Sicherheit, dass der auf der Trage liegende Mann die Nacht mit Marie verbracht hatte und dass ihm und nicht Marie etwas passiert war (Marie war nichts geschehen, Marie war wohlbehalten). Und in diesem Moment entdeckte mich Marie, für einen Augenblick kreuzten sich unsere Blicke in der Nacht, es war über zwei Monate her, dass wir uns gesehen hatten.
Ich betrat das Gebäude durch die Toreinfahrt und stieg das Treppenhaus hinauf zu Marie. Die Tür zu ihrem Appartement stand noch offen, ich ging in die Wohnung, lief geräuschlos durch den Flur. Als ich in das Schlafzimmer kam, fiel mir sofort das Paar Schuhe auf, das neben dem Bett stand. Die einzige Spur, die von der Anwesenheit dieses Mannes in diesem Raum geblieben war. Alles andere war verschwunden, nichts anderes mehr zeugte von seinem Besuch, nichts von der medizinischen Behandlung, die ihm hier vor fünf Minuten zuteilgeworden war, kein weggeworfener Verschluss, keine vergessene Ampulle, kein auf dem Boden liegen gelassener Verband. Ich betrachtete die unordentlich am Fußende des Betts zurückgelassenen Schuhe (einer stand gerade auf dem Parkett, der andere war umgekippt), langgestreckte, elegante italienische Schuhe, massiv und doch nach vorne spitz zulaufend, ein wertvolles Leder, Kalb oder Rind, ein Paar klassische Richelieus, fest und doch geschmeidig, ohne Zweifel waren sie äußerst bequem, wie es der Tradition der großen italienischen Schuhmacherkunst entspricht, deren beste Exemplare wie Handschuhe am Fuß anliegen, die Farbe war undefinierbar, etwas zwischen karamell und chamois, mit jenen haarfeinen, aber fischleinenharten Schnürsenkeln, ein flaumweiches, leicht pelziges, aufgerautes Oberleder, versteift durch eine Vielzahl kleiner dekorativer Lochungen, mit betont unauffälligen, leicht gesteppten Nähten, und im Futter – es musste ein völlig neuer Schuh sein, er duftete noch nach frischem Leder – war eine höchst diskrete und gleichsam subliminale goldene Signatur eingraviert. Ich betrachtete die leeren am Fußende des Betts zurückgelassenen Schuhe. Das war alles, was von diesem Mann in diesem Schlafzimmer übrig geblieben war. Von ihm, wie von dem Mann aus der Sage, den der Blitz traf, waren nur die Schuhe geblieben.
Marie hatte mich gehört, wie ich ins Schlafzimmer getreten war, hatte sich aber nicht zu mir umgedreht. Sie hatte gewartet, dass ich zu ihr kam, wir hatten nichts gesagt, nur Seite an Seite am Fenster gestanden und zugesehen, wie der Rettungswagen in der Nacht losfuhr. Er entfernte sich in Richtung der Seine, der Hall der Sirene wurde leiser, immer schwächer, war schließlich verschwunden. Marie wandte sich dann sehr langsam mir zu, kraftlos und schlafwandlerisch, sie berührte meine Schulter, wortlos, wie um mir stillschweigend zu danken, dass ich zu ihr gekommen war.
Ich war von oben bis unten durchnässt, triefte geradezu, von den Ärmeln meines Jacketts tropfte das Wasser, um meine Füße herum hatte sich auf dem Parkett eine kleine Pfütze gebildet. Solange ich draußen war, hatte ich davon nichts bemerkt, es war mir nicht einmal bewusst geworden, dass ich nass wurde. Mein Jackett war aus der Form, wie ein Lumpen hing es an mir herunter, mein Hemd klebte an meinem Oberkörper, meine Kleider hatten sich mit sirupartigem Regen vollgesogen, der Stoff war schwer, selbst meine Socken schwammen in meinen Schuhen und hinterließen in mir dieses so äußerst unangenehme körperliche Gefühl, das man bekommt, wenn Socken in Schuhen nass werden. Ich zog Schuhe und Socken aus, ließ sie unter dem Fenster liegen und lief barfuß und mit ausgebreiteten Armen durch das Schlafzimmer, um mich abtropfen zu lassen, hinterließ dabei auf meinem Weg überall kleine Wasserlachen. Ich hatte mein nasses Hemd, das fest auf meiner Haut klebte, aufgeknöpft und schaute mich im Schlafzimmer um. Die Einrichtung des Zimmers hatte sich seit meinem Auszug etwas verändert, es gab einen neuen Schreibtisch, aber alles in allem war
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