Die Wahrheit
die ich anhabe.«
»Und?«
»Wollte der Freund, von dem du den Wagen geliehen hast, zufällig gerade für ein paar Monate auf Campingtour gehen?«
John kaute auf einem Stück Apfel. »Ich muß essen. Und das bedeutet, ich muß dann und wann mal einkaufen fahren, oder?«
»Ja, aber mit dem Wagen eines Freundes? Und du hast nichts gekauft, was schlecht wird, keine Milch oder Eier oder so was. Nur Konserven und Tüten und so weiter.«
»Ich hab’ in der Army fast nur von Konserven gelebt. Seitdem steh’ ich auf Mahlzeiten, die man nicht großartig zubereiten muß.«
»Und trägst du immer so viele Waffen mit dir rum?«
»Vielleicht hab’ ich von Vietnam noch ’n Hau weg, irgend so ein Syndrom oder wie das heißt.«
Rufus zerrte an seinem Hemd, das so groß wie eine Decke war. »Meine Größe gibt’s nicht gerade von der Stange. Du hattest von Anfang an vor, mich da rauszuholen, stimmt’s?«
Josh hatte den Apfel gegessen und warf den Kern aus dem Fenster. Er wischte sich die vom Saft nassen Hände an den Jeans ab und schaute dann seinen Bruder an.
»Hör mal, Rufus, ich hab’ nie kapiert, warum du das kleine Mädchen umgebracht hast. Aber ich wußte, du warst nicht richtig im Kopf, als du’s getan hast. Und als ich diesen Brief von der Army bekam, da dämmerte mir, daß irgendwas dahinter steckt. Ich hatte zwar keinen Schimmer, daß es ’ne Tarnung war - eine Tarnung für irgendwas, das man dir angetan hat. Aber heutzutage drehen Leute durch und bauen schlimme Scheiße, und dann steckt man sie in den Knast, und wenn sie sich gebessert haben, läßt man sie irgendwann wieder raus. Bei dir war’s anders. Du hast die Kleine nicht umbringen wollen. Das weiß ich genau. Aber du hast fünfundzwanzig Jahre abgesessen, und nie fiel das Wort Bewährung oder so. Sagen wir einfach, ich habe die Entscheidung gefällt, daß es lange genug war. Du hast deine Zeit abgesessen, deine >Schuld an die Gesellschaft bezahlt< und diesen ganzen Scheiß. Es war an der Zeit, daß du rauskommst, und ich wollte dir den Schlüssel bringen. Hättest du nicht mitkommen wollen - ich hätte dich schon irgendwie dazu gebracht. Und es war mir scheißegal, ob es nun richtig oder falsch war. Es war mein fester Entschluß. Und damit basta.«
Die Brüder schauten sich lange Zeit schweigend an.
»Du bist ein guter Bruder, Josh«, sagte Rufus schließlich.
»Da hast du verdammt recht.«
Rufus setzte sich wieder auf den Boden, griff nach der Bibel und blätterte behutsam die Seiten um, bis er die gesuchte Stelle gefunden hatte. Josh musterte ihn.
»Du liest dieses Zeug nach all den Jahren noch immer?«
Rufus schaute zu ihm hoch. »Ich werde mein Leben lang die Bibel lesen.«
Josh schnaubte. »Du kannst mit deiner Zeit machen, was du willst, aber auf diese Weise würde ich sie nicht verschwenden.«
Rufus betrachtete ihn mit steinernem Gesicht. »Das Wort des Herrn hat mich all die Jahre am Leben gehalten. Das ist keine Zeitverschwendung.«
Josh schüttelte den Kopf, schaute aus dem Fenster und blickte dann wieder Rufus an. Er berührte den Griff seiner Pistole. »Das hier ist Gott. Oder ein Messer oder eine Dynamitstange. Oder die Einstellung: Pinkel mich nicht an! Und nicht irgendein heiliges Buch voller Leute, die sich gegenseitig umbringen, voller Männer, die mit Frauen anderer Männer schlafen, mit so ziemlich jeder Sünde, die einem einfällt .«
»Sünden der Menschen, nicht Gottes.«
»Nicht Gott hat dich aus dem Knast rausgeholt. Das war ich.«
»Gott hat dich zu mir geschickt, Josh. Sein Wille ist überall.«
»Du behauptest also, Gott hätte mich dazu gebracht, dich zu befreien?«
»Warum bist du gekommen?«
»Ich hab’s dir doch gesagt. Um dich rauszuholen.«
»Weil du mich liebst?«
Josh wirkte ein wenig verblüfft. »Ja«, sagte er.
»Das ist der Wille Gottes, Josh. Du liebst mich, du hilfst mir. Das ist Gottes Wirken.«
Josh schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab. Rufus widmete sich wieder seiner Lektüre.
Ein Kreischen drang aus Joshs tragbarem PolizeifunkAbhörgerät, das er neben dem Radio auf den Boden gestellt hatte. Es war Josh gelungen, einen Sender aus dem südwestlichen Virginia einzustellen, so daß sie die örtlichen Nachrichten über Rufus’ Flucht mitbekamen.
»Hast du deinen Namen noch im Polizeifunk gehört?« fragte Josh.
Rufus Harms war am Tag zuvor in den Nachrichten erwähnt worden. Sämtliche Militärbehörden erklärten übereinstimmend, Harms sei ein verurteilter Mörder, der
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