Die Wahrheit
Ihr Bruder hat Sie sehr geliebt. Ich wünschte, ich würde meinem Bruder auch so nahestehen.«
Nachdenklich legte Fiske auf, horchte in sich hinein. Da waren die Trauer, der Schmerz, vor allem aber hilfloser Zorn, der ihn nun beinahe dazu getrieben hätte, die Faust gegen die Wand zu hämmern.
Er stand auf, steckte sich die Liste in die Tasche und verließ das Haus, stieg die Treppe hinunter und ging über einen kurzen Pfad, der zur einen Seite von hohen Rohrkolben und zur anderen Seite von einem großen Farn gesäumt wurde, zu der kleinen Anlegestelle.
Der Himmel war dunkelblau, nur mit wenigen Wolken gesprenkelt, und die Brise war erfrischend, die Schwüle für den Augenblick gewichen. Fiske schaute nach Norden, zu den Reihenhäusern im äußeren Ring von Alexandria, dann zu der langen, gewundenen Woodrow-Wilson Bridge. Jenseits des Flusses konnte er das Ufer von Maryland ausmachen, ein baumgesäumtes Spiegelbild des Ufers, das zu Virginia gehörte. Ein Jet donnerte im Landeanflug auf den nur einige Kilometer entfernten National Airport über Fiske hinweg; das Fahrwerk war bereits ausgefahren. Der Rumpf der Maschine war dem Boden so nahe, daß Fiske das Gefühl hatte, ihn mit einem Stein treffen zu können.
Als das Flugzeug gelandet und wieder Stille eingekehrt war, trat Fiske auf den Bug des Segelboots. Das Schiff schaukelte sanft unter ihm; das Sonnenlicht streichelte sein Gesicht. Er setzte sich und lehnte den Kopf an den Mast, roch das Tuch des entrollten Segels und schloß die Augen. Er war so unendlich müde.
»Sie haben es sich ja richtig gemütlich gemacht.«
Fiske fuhr aus dem Halbschlaf hoch, schaute sich blinzelnd um und erblickte Sara auf der Anlegestelle. Sie trug ein schwarzes Kostüm; am Ausschnitt lugte eine weiße Seidenbluse hervor. Um den Hals trug sie eine dünne Perlenkette, das Haar war zu einem schlichten Knoten zusammengebunden, und sie hatte sich einen Hauch Make-up und hellroten Lippenstift aufgetragen.
Sie lächelte. »Tut mir leid, daß ich Sie wecken mußte. Sie haben so friedlich geschlafen.«
»Beobachten Sie mich schon lange?« sagte Fiske und fragte sich dann, warum er sich danach erkundigt hatte.
»Lange genug. Sie können jetzt duschen.«
Er erhob sich und trat auf die Anlegestelle. »Schönes Boot.«
»Ich habe Glück, hier fällt das Ufer steil ab. Ich muß es nicht in einem Jachthafen unterbringen. Wenn Sie wollen, fahre ich mal mit Ihnen raus. Es bleibt noch etwas Zeit, bevor ich es winterfest machen muß.«
»Vielleicht.«
Er ging an ihr vorbei zum Haus.
»John?« Er drehte sich um. Sara legte eine Hand auf das Treppengeländer und schaute zu ihrem Segelboot hinüber, als hoffte sie, etwas von der ruhigen, friedlichen Stille, die es ausstrahlte, würde auf sie übergehen.
»Ich werde das mit Ihrem Vater wieder in Ordnung bringen. Auf jeden Fall. Ich verspreche es.«
»Das ist mein Problem. Sie müssen sich nicht ...«
»Doch, John«, sagte sie fest, »das muß ich.«
Eine halbe Stunde später fuhr Fiske den Wagen auf die Privatstraße, die zum Parkway führte. Die beiden schwarzen Limousinen, die plötzlich vor Saras Wagen auftauchten, zwangen Fiske zu einem scharfen Bremsmanöver. Sara schrie auf. Fiske sprang aus dem Wagen und blieb reglos stehen, als er die auf ihn gerichteten Waffen sah.
»Hände hoch«, brüllte einer der Männer.
Fiske gehorchte.
Sara stieg ebenfalls aus und sah, wie Perkins aus dem einen und Agent McKenna aus dem anderen Wagen sprangen.
Perkins erkannte Sara. »Stecken Sie die Waffen ein«, sagte er zu den beiden Männern in Straßenanzügen.
»Diese Männer stehen unter meinem Befehl, nicht unter Ihrem«, dröhnte McKennas Stimme. »Sie werden ihre Waffen nur auf meine Anweisung einstecken.« McKenna trat direkt vor Fiske.
»Alles in Ordnung, Sara?« fragte Perkins.
»Natürlich. Verdammt noch mal, was ist los?«
»Ich habe eine dringende Nachricht auf Ihren Anrufbeantworter gesprochen.«
»Den habe ich noch nicht abgehört. Was ist los?«
McKenna sah das Schrotgewehr, das auf dem Rücksitz lag. Nun zog auch er seine Waffe, richtete sie direkt auf Fiske und betrachtete dessen von den Schlägen seines Vaters verletztes Gesicht. »Hält dieser Mann Sie gegen Ihren Willen fest?« fragte er Sara.
»Was soll dieser melodramatische Scheiß?« sagte Fiske. Er nahm die Hände herunter, und McKenna hämmerte ihm die Faust in den Magen. Fiske fiel keuchend auf die Knie. Sara lief zu ihm und half ihm, sich gegen den Wagenreifen zu
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