Die Wahrheit
aufgelegt hatte, war längst verlaufen und verblaßt und bildete nur noch Flecken auf ihren Lidern und Wangen. Sie war körperlich und geistig bis an den Rand der Erschöpfung getrieben worden. Diese Frau war der Anlaß für einen schrecklichen, vielleicht katastrophalen Bruch zwischen ihm und seinem Vater gewesen - ein Mann, den Fiske geradezu anbetete. Und doch mußte er gegen das Verlangen ankämpfen, Sara zu umarmen, sie auszuziehen und jetzt und hier mit ihr zu schlafen.
»Jeder hat verdient, daß man ihm vergibt«, sagte Fiske schließlich und schaute wieder auf die Karte.
Während Sara duschte, ging Fiske in ein Zimmer neben der Küche. Sara benutzte es offensichtlich als Arbeitszimmer; ein Schreibtisch mit Computer und Drucker sowie Regale voller juristischer Fachbücher standen darin. Fiske faltete die Karte auf dem Schreibtisch auseinander. Dann warf er einen Blick auf die Maßstabsangabe, übertrug Zentimeter in Kilometer und stöberte in der Schreibtischschublade herum, bis er ein Lineal fand. Von Washington aus, dem zentralen Punkt, zog er Striche nach Norden, Westen und Süden und verband die Endpunkte miteinander. Den Osten ließ er aus; sechshundert Kilometer hätten ihn bis weit auf den Atlantik hinausbefördert. Er machte eine Liste jener Bundesstaaten, die der Kreis umfaßte oder berührte; dann griff er nach dem Telefon und rief die Auskunft an. Binnen einer Minute sprach er mit einem Mitarbeiter des Federal Bureau of Prisons. Fiske nannte ihm den Namen Harms und erklärte, in welchem geographischen Radius ein Häftling namens Harms in einem Bundesgefängnis einsitzen könnte, denn Fiske war der Gedanke gekommen, daß Mike diesen Harms vielleicht im Knast besucht hatte. Das würde auch den Anruf erklären, als Mike ihn um Rat hatte fragen wollen. Über Gefängnisse wußte John Fiske viel mehr als sein jüngerer Bruder.
Als der Mitarbeiter der Bundesaufsichtsbehörde für Strafanstalten sich wieder meldete, runzelte Fiske die Stirn. »Sind Sie sicher? Es gibt innerhalb dieses Radius kein Bundesgefängnis, in dem ein Häftling namens Harms einsitzt?«
»Ich bin sogar ein paar hundert Kilometer über das von Ihnen genannte Gebiet hinausgegangen.«
»Und wie ist es mit den Staatsgefängnissen?«
»Ich kann Ihnen die Telefonnummern sämtlicher bundesstaatlicher Behörden geben. Wissen Sie, um welche Staaten es sich handelt?«
Fiske schaute auf die Karte und gab dem Mann die Namen durch. Es waren mehr als ein Dutzend. Er notierte sich die Telefonnummern, die der Mann ihm durchgab, und legte auf.
Er dachte kurz nach und kam auf den Gedanken, die Anrufbeantworter in seinem Büro und seiner Wohnung abzuhören. Ein Anruf kam von einer Versicherungsagentin aus dem Großraum Washington. Fiske rief die Frau zurück.
»Es hat mir sehr leid getan, als ich vom Tod Ihres Bruders las, Mr. Fiske«, sagte die Frau.
»Ich wußte gar nicht, daß mein Bruder eine Lebensversicherung abgeschlossen hatte.«
»Manchmal werden die Nutznießer nicht darüber in Kenntnis gesetzt. Die Versicherungsgesellschaft ist nicht einmal verpflichtet, die Nutznießer zu informieren, selbst wenn die Gesellschaft vom Tod des Versicherten weiß. Ehrlich gesagt, geben die Versicherer sich keine allzu große Mühe, Ansprüche abzugelten.«
»Warum haben Sie mich dann angerufen?«
»Weil Michaels Tod mich sehr erschüttert hat.«
»Wann hat er die Versicherung abgeschlossen?«
»Vor etwa einem halben Jahr.«
»Er hatte keine Frau oder Kinder. Wozu dann eine Lebensversicherung?«
»Nun ja, deshalb habe ich Sie angerufen. Er wollte, daß Sie das Geld bekommen, falls ihm etwas zustößt.«
Fiske spürte einen Kloß im Hals und ließ den Hörer für einen Moment sinken. »Unsere Eltern brauchen das Geld viel dringender als ich«, brachte er schließlich heraus.
»Ihr Bruder sagte mir, Sie würden Ihren Eltern das Geld ohnehin zukommen lassen. Er wollte aber, daß Sie einen Teil der Summe für sich selbst verwenden. Er war der Meinung, Sie wüßten besser als Ihre Eltern, das Geld sinnvoll anzulegen.«
»Ich verstehe. Über was für eine Summe sprechen wir überhaupt?«
»Mehr als eine halbe Million Dollar.« Die Frau las Fiske seine Adresse vor und fragte, ob sie noch zuträfe. »Auch wenn es nicht hierher gehört«, sagte sie dann, »ich stelle sehr viele Policen aus, wissen Sie, aus den unterschiedlichsten Gründen, und oft spielen Eigennutz oder Eifersucht oder gar Haß eine Rolle ... aber falls Sie es nicht gewußt haben,
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