Die Wahrheit
»Wollten Sie mich nur durch den Reifen springen lassen?«
»Man muß sich bei der Arbeit auch mal ein bißchen Spaß gönnen.«
Fiske ballte eine Hand zur Faust, öffnete sie rasch wieder. Graham war es nicht wert, sich zu ärgern. »Apropos Höflichkeit unter Kollegen ... gab es Augenzeugen?«
»Oh, ungefähr ein halbes Dutzend, und die Mordwaffe hat man zusammen mit Jerome in dessen Wagen gefunden. Als er fliehen wollte, hätte er um ein Haar zwei Polizisten überfahren. Wir haben Blutspuren, die Drogen ... wir haben alles hübsch beisammen. Man hätte dem Kerl gar keine Kaution gewähren dürfen. Ich überlege mir ernsthaft, diese windige Anklage wegen Drogenhandels fallenzulassen, bei der Sie ihn vertreten, und mich nur auf die neue Entwicklung zu konzentrieren. Ich muß meine beschränkten Möglichkeiten voll ausschöpfen. Dieser Hicks ist ein schlimmer Finger, John. Ich glaube, wir werden in diesem Fall die Todesstrafe beantragen müssen.«
»Die Todesstrafe? Also, jetzt machen Sie aber ’nen Punkt, Bobby.«
»Die bewußte, absichtliche und vorsätzliche Tötung eines Menschen in Tateinheit mit Raub ist Mord, und der zieht nun mal die Todesstrafe nach sich. Das steht zumindest in meinem Gesetzbuch des Staates Virginia.«
»Mir ist scheißegal, was das Gesetz besagt. Hicks ist erst achtzehn.«
Graham verzog das Gesicht. »Seltsame Worte von einem Anwalt, der geschworen hat, die Gesetze zu achten.«
»Das Gesetz ist für mich ein Sieb, das dazu dient, die Tatsachen herauszufiltern und den Dreck aufzufangen.«
»Genau. Diese Brüder sind Dreck. Abschaum. Kommen aus dem Mutterleib gekrochen, um anderen Menschen etwas anzutun. Wir sollten Gefängnisse für Kleinkinder bauen, bevor diese Arschlöcher heranwachsen und jemanden verletzen können.«
»Jerome Hicks’ ganze Jugend war ...«
»Genau, schieben Sie es auf seine beschissene Kindheit«, unterbrach Graham ihn. »Immer wieder die alte Leier!«
»Genau, immer wieder dieselbe alte Leier.«
Graham lächelte und schüttelte den Kopf. »Hören Sie, ich bin auch nicht mit einem silbernen Löffel im Mund aufgewachsen. Wollen Sie mein Geheimnis wissen? Ich habe mir den Arsch aufgerissen, um es zu etwas zu bringen. Und wenn ich es schaffen kann, können andere es auch. Fall abgeschlossen.«
Fiske ging davon, schaute dann aber noch einmal zurück.
»Lassen Sie mich einen Blick in den Polizeibericht über die Verhaftung werfen. Ich rufe Sie dann an.«
»Wir haben nichts zu besprechen.«
»Wenn der Junge hingerichtet wird, bringt Ihnen das auch nicht das Amt des Attorney-General ein, Bobby, und das wissen Sie. Da müssen Sie sich schon eine größere Zielscheibe aussuchen.« Fiske wandte sich ab und ging davon.
Graham drehte die Zigarette zwischen den Fingern. »Besorgen Sie sich mal einen richtigen Job, Fiske.«
Eine halbe Stunde später traf John Fiske sich in einem Bezirksgefängnis in einem Vorort mit einem seiner Mandanten. Sein Beruf als Anwalt führte ihn oft aus Richmond hinaus, in die Bezirke Henrico, Chesterfield, Hanover, sogar bis nach Goochland. Es gab immer mehr Arbeit, immer mehr Streß. Fiske war nicht besonders erfreut darüber, hatte sich aber damit abgefunden. Mittlerweile war es für ihn so selbstverständlich wie die Tatsache, daß jeden Morgen die Sonne aufging. Es würde immer so weitergehen - bis zu dem Tag, an dem alles endete.
»Ich muß mit Ihnen über ein Teilgeständnis sprechen, Derek. Dann könnte ich ein milderes Strafmaß für Sie herausholen.«
Derek Brown - oder DB-1, wie er auf den Straßen genannt wurde - war ein hellhäutiger Schwarzer, dessen Arme mit haßerfüllten, obszönen und malerischen Tätowierungen verziert waren. Er hatte so lange im Gefängnis gesessen, daß seine Haut gelbbraun wirkte; Adern zogen sich wie Würmer über seine Bizepse. Fiske hatte Derek einmal dabei beobachtet, wie er auf dem Sportplatz des Gefängnisses mit nacktem Oberkörper Basketball spielte. Er war sehr muskulös und hatte weitere Tätowierungen auf Rücken und Schultern. Aus der Ferne sah es wie eine bizarre Orchesterpartitur aus. Derek konnte in die Höhe schnellen wie ein Pfeil, um dann traumgleich zu schweben, von irgend etwas in der Luft gehalten, das Fiske nicht sehen konnte. Die anderen Gefangenen, sogar die Wächter drehten sich zu ihm um und schauten bewundernd zu, wenn der junge Bursche den Ball in den Korb warf, hämmerte oder streichelte. Aber Derek war nie gut genug gewesen, um in einer Collegemannschaft zu spielen,
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