Die Wahrheit
Kochplatte und den Teekessel? Machen Sie ihn mit Wasser voll.«
»Ich koche Ihnen gern einen Tee, Mr. Rider.«
»Ich möchte keinen Tee, Sheila. Bringen Sie mir einfach den verdammten Kessel und die Kochplatte!«
Sheila ließ sich weder zu einer Bemerkung über diesen seltsamen Wunsch noch zu einem Kommentar über die schlechte Laune ihres Chefs hinreißen. Sie brachte den Kessel und die Kochplatte ins Büro und verließ es sofort wieder.
Rider stöpselte die Kochplatte ein, und nach ein paar Minuten quoll Dampf aus dem Kessel. Der Anwalt nahm den Umschlag behutsam an den Ecken, hielt ihn über den Dampf und beobachtete, wie er sich öffnete, genau wie Rufus Harms es ihm gesagt hatte. Rider fingerte an den Ecken herum; kurz darauf hatte er den Umschlag gänzlich geöffnet. Doch statt eines Umschlags hielt er nun zwei Blatt Papier in den Händen: das eine war eine handschriftliche Notiz, das andere eine Kopie des Briefes, den Harms von der Army erhalten hatte.
Als Rider die Kochplatte wieder ausschaltete, fragte er sich staunend, wie Rufus diesen Umschlag, der in Wirklichkeit ein Brief war, angefertigt hatte. Und wie hatte er den Brief von der Army kopiert und dann darin versteckt? Dann fiel ihm ein, daß Harms’ Vater Drucker gewesen war. Es wäre besser für Rufus gewesen, beruflich in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, statt sich freiwillig zur Armee zu melden, ging es Rider durch den Kopf.
Er ließ die beiden Blätter eine Minute lang trocknen, setzte sich dann hinter den Schreibtisch und las, was Rufus geschrieben hatte. Es dauerte nicht lange. Die Bemerkungen waren ziemlich kurz, auch wenn viele Worte kaum leserlich oder falsch geschrieben waren. Was Rider nicht wissen konnte: Harms hatte den Brief in nahezu völliger Dunkelheit geschrieben und jedesmal innegehalten, wenn er hörte, daß die Schritte eines Wächters näher kamen. Als Rider zu Ende gelesen hatte, war sein Mund pulvertrocken. Er mußte sich zwingen, die offizielle Mitteilung der Army zu lesen. Ein weiterer Tiefschlag.
»Großer Gott!« Er sank in seinem Sessel zurück, rieb sich mit einer Hand über die kahle Stelle am Kopf, sprang dann auf, lief zur Tür und schloß sie ab. Wie ein mutierendes Virus breitete die Furcht sich in seinem Innern aus. Er bekam kaum noch Luft, beugte sich über den Schreibtisch und drückte wieder auf den Knopf der Gegensprechanlage. »Sheila, bringen Sie mir bitte ein Glas Wasser und eine Aspirin.«
Einen Augenblick später klopfte Sheila an die Tür. »Mr. Rider«, sagte sie, »es ist abgeschlossen.«
Rasch schloß er die Tür auf, nahm das Glas und das Aspirin entgegen und wollte gerade wieder abschließen, als Sheila fragte: »Ist alles in Ordnung?«
»Ja, ja«, erwiderte er und drängte sie hinaus.
Wieder schaute Rider auf den Brief, den er für Rufus beim Obersten Gericht einreichen sollte. Rider hatte die entsprechende Befugnis; er war als Anwalt beim Obersten Gerichtshof zugelassen, was er jedoch lediglich der Förderung durch einen ehemaligen Kollegen beim Militär verdankte, der nun im Justizministerium arbeitete. Wenn Rider tat, was Rufus verlangte, würde genau dieser Kollege bei Harms’ Berufungsverhandlung die Gegenseite vertreten - was zu einer persönlichen Katastrophe führen mußte.
Aber er hatte es Rufus versprochen.
Rider legte sich auf das Ledersofa, das in einer Ecke seines Büros stand, schloß die Augen und ließ seine Gedanken in die Vergangenheit schweifen. In der Nacht, in der Ruth Ann Mosley ermordet worden war, hatte es viele Unstimmigkeiten gegeben. In Rufus’ Vorstrafenregister waren keine Gewalttaten aufgeführt, nur zahlreiche Befehlsverweigerungen, die viele Vorgesetzte gegen ihn aufgebracht und anfangs auch Rider verärgert hatten. Was Harms’ Unfähigkeit betraf, den einfachsten Befehlen zu gehorchen, so hatte man schließlich, als Rider ihn vor Gericht vertrat, dafür eine Erklärung gefunden. Doch für seine Flucht aus dem Bau gab es keine Erklärung. Da Rider damals keine andere Verteidigungsmöglichkeit sah, hatte er schließlich angedeutet, auf geistige Unzurechnungsfähigkeit plädieren zu wollen, was ihm gerade genug Hebelwirkung verschafft hatte, um seinen Mandanten vor der möglichen Hinrichtung zu bewahren. Und das war dann das Ende vom Lied gewesen. Der Gerechtigkeit war Genüge getan worden. Zumindest in dem Umfang, den man auf dieser Welt erwarten konnte.
Rider betrachtete erneut die Mitteilung der Army, diese krasse Lüge aus der Vergangenheit,
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