Die Wahrheit
Sie, Sara, sind zu einer zweiten Sitzungsperiode hierher zurückgekehrt. Michael Fiske hat sich bei Tommy für eine dritte verpflichtet. Ich würde es sehr begrüßen, wenn auch Sie weitermachen würden.«
»Seltsam, daß Sie ihn erwähnen. Auch Michael hat sich nach Ihren Bemerkungen bei der mündlichen Verhandlung erkundigt. Er ist der Ansicht, daß Murphy alles willkommen heißt, was Sie bezüglich der Präferenzbehandlung für Arme unternehmen werden.«
Knight lächelte. »Michael muß es ja wissen. Er und Tommy stehen sich so nahe, wie es bei einem Richter und seinem Assistenten nur möglich ist.«
»Michael weiß mehr über das Gericht als jeder andere. Manchmal kann er einem sogar ein bißchen unheimlich sein.«
Knight musterte Sara scharf. »Ich dachte, Sie und Michael stünden sich nahe.«
»Das stimmt auch. Ich meine, wir sind gute Freunde.« Sara errötete, als Richterin Knight sie weiterhin unverwandt musterte.
»Also werden wir demnächst keine Heiratsanzeige von Ihnen beiden lesen können?« Knight lächelte freundlich.
»Was? Nein, nein. Wir sind nur Freunde.«
»Ich verstehe. Tut mir leid, daß ich gefragt habe, Sara. Es geht mich nichts an.«
»Schon gut. Wir verbringen tatsächlich viel Zeit miteinander. Da liegt es nahe, daß einige Leute glauben, es steckt mehr als nur Freundschaft dahinter. Ich meine, Michael ist ein sehr attraktiver Mann, und offensichtlich auch ein sehr kluger. Er hat eine große Zukunft.«
»Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, Sara, aber das hört sich so an, als wollten Sie sich selbst etwas einreden.«
Sara senkte den Blick. »Ja, kann schon sein.«
»Hören Sie auf den Rat einer Frau, die zwei erwachsene Töchter hat. Überstürzen Sie nichts. Lassen Sie die Dinge ihren Lauf nehmen. Sie haben viel Zeit. Ende des mütterlichen Ratschlags.«
Sara lächelte. »Danke.«
»So, und was macht das Memo zum Fall Chance gegen die Vereinigten Staaten?«
»Ich weiß, daß Steven pausenlos daran arbeitet.«
»Steven Wright kommt hier nicht besonders gut zurecht.«
»Nun ja, er bemüht sich wirklich sehr.«
»Sie müssen ihm helfen, Sara. Sie sind die dienstälteste Assessorin. Ich hätte dieses Memo schon vor vierzehn Tagen haben müssen. Ramsey hat seine Munition beisammen, und sämtliche Präzedenzfälle sprechen für ihn. Wenn ich auch nur einen Schuß zurückfeuern will, muß ich mindestens ebenso gut vorbereitet sein.«
»Die Sache hat höchste Priorität für mich. In Ordnung?«
»Gut.«
Sara erhob sich. »Ich bin sicher, Sie werden mit dem Obersten Richter fertig.«
Die Frauen lächelten sich an. Elizabeth Knight war für Sara Evans, die ihre Mutter schon als kleines Mädchen verloren hatte, beinahe zu einer zweiten Mutter geworden.
Als Sara das Büro verlassen hatte, lehnte Elizabeth Knight sich in ihrem Sessel zurück. Das Amt, das sie nun innehatte, war die Kulmination lebenslanger Arbeit und Opfer, aber auch das Ergebnis von Glück und Können. Sie war mit einem angesehenen Senator der Vereinigten Staaten verheiratet, einem Mann, den sie liebte und der ihre Liebe erwiderte. Sie war eine von nur drei Frauen, die jemals den Talar eines Richters am Obersten Gerichtshof getragen hatten. Sie kam sich unbedeutend vor - zugleich aber mit gewaltiger Macht ausgestattet. Der Präsident, der sie nominiert hatte, war noch im Amt. Er hatte sie als zuverlässige Juristin der politischen Mitte betrachtet. Elizabeth Knight war politisch nicht so aktiv gewesen, daß der Präsident davon ausgehen konnte, sie würde sich als linientreu erweisen, was seine Partei betraf. Andererseits erwartete er wahrscheinlich von ihr, daß sie sich kritisch passiv verhielt und die Lösung der wirklich wichtigen Fragen den gewählten Volksvertretern überließ.
Sie hatte keine so festgefahrenen Ansichten wie etwa Ramsey oder Murphy. Diese beiden entschieden bei Abstimmungen nicht so sehr nach der Faktenlage eines jeden Falles, sondern nach seiner allgemeinen gesellschaftlichen Bedeutung. Murphy würde niemals für ein Todesurteil votieren, ganz gleich, welche Seite in die Berufung gegangen war. Ramsey dagegen würde eher den Krempel hinschmeißen, bevor er sich in einer Strafsache auf die Seite des Angeklagten schlug.
Elizabeth Knight konnte sich bei ihren Entscheidungen nicht auf solche vorgefaßten Einstellungen stützen. Sie nahm jeden Fall, wie er kam - und auch jede gegnerische Partei. Für sie gab es keine übergeordnete juristische, gesellschaftliche oder moralische
Weitere Kostenlose Bücher