Die Wahrheit
Hoffnungen und Erwartungen. Doch sein Zorn hatte diese Wahrheit verzerrt, hatte das Schlechte wachsen und das Gute absterben lassen.
»Mike?« fragte Gladys ängstlich. »Wie geht es den Kindern?«
»Ausgezeichnet. Sehr gut. Sie werden groß. Es sind prächtige Kinder. Sie sehen dir sehr ähnlich.« Fiske hätte sich am liebsten auf den Boden geworfen, laut geschrien, geweint, weil er so tun mußte, als wäre er Mike. Der Kleine. Der Familienvater.
Gladys lächelte und griff sich ans Haar.
John wußte, was sie hören wollte. »Du siehst gut aus. Dad meint, du bist hübscher denn je.« Den Großteil ihres Lebens war Gladys Fiske eine attraktive Frau gewesen, die sehr großen Wert auf ihr Äußeres gelegt hatte. Die Auswirkungen der Alzheimerschen Krankheit hatten in ihrem Fall den Alterungsprozeß beschleunigt. Ich danke Gott, dachte Fiske, daß du dich nicht mehr erkennen kannst, Mom. Er hoffte, daß seine Mutter sich noch immer für zwanzig hielt und für so hübsch, wie sie hübscher nie sein würde.
Er gab ihr das Geschenk, das er ihr mitgebracht hatte. Sie nahm es mit kindlicher Freude entgegen und riß die Verpackung ab. Behutsam berührte sie die Bürste und fuhr sich dann ganz vorsichtig damit durchs Haar.
»Das ist das Schönste, was ich je gesehen habe.«
Das sagte sie fast immer, egal was er ihr mitbrachte. Taschentücher, Lippenstift, ein Bilderbuch. Das Schönste, was sie je gesehen hatte. Jedesmal, wenn er hierherkam, sammelte sein Bruder massenhaft Pluspunkte.
Fiske zwang sich, diese Gedanken zu unterdrücken, und verbrachte eine sehr angenehme Stunde mit seiner Mutter. Er liebte sie sehr. Hätte er gekonnt, hätte er die Krankheit, die ihr Gehirn zerstörte, aus ihr herausgerissen. Aber das konnte niemand, und deshalb wollte er alles tun, um bei ihr sein zu können, solange es noch möglich war.
Selbst als der eigene Bruder.
Fiske verließ das Altenheim und fuhr zum Haus seines Vaters. Als er in die vertraute Straße abbog, schaute er sich in den verfallenden Grenzen seiner ersten achtzehn Lebensjahre um: baufällige Häuser mit abbröckelnder Farbe und morschen Veranden, durchhängende Stacheldrahtzäune und schmutzige Höfe, die zu schmalen Straßen mit aufgerissener Asphaltdecke führten; zu beiden Seiten parkten endlose Reihen uralter, rostender Fords und Chevys.
Vor fünfzig Jahren war dieses Viertel eines der vielen gewesen, in denen nach dem Zweiten Weltkrieg die Menschen mit der unerschütterlichen Zuversicht, das Leben könne nur besser werden, einen neuen Anfang versucht hatten. Für jene, welche diese Brücke zum Wohlstand nicht überschritten hatten, war die sichtbarste Veränderung in ihrem verbrauchten Leben die hölzerne Rampe für einen Rollstuhl, die man über die vordere Treppe gelegt hatte. Als Fiske eine dieser Rampen betrachtete, wußte er, daß er bei seiner Mutter einen Rollstuhl dem Verfall des Gehirns jederzeit vorziehen würde.
Er bog auf die Einfahrt des gut instand gehaltenen Hauses seines Vaters ab. Je schlimmer das Viertel um das Haus herum zerfiel, desto härter schuftete sein alter Herr, den Niedergang in Schach zu halten. Vielleicht, um die Vergangenheit ein wenig länger am Leben zu erhalten. Vielleicht, weil er hoffte, seine Frau würde als Zwanzigjährige mit einem unverbrauchten, gesunden Verstand wieder nach Hause kommen. Der alte Buick stand in der Einfahrt; die Karosserie rostete ein wenig, doch der Motor war dank der meisterhaften Mechanikerkünste des Besitzers in erstklassigem Zustand. Fiske sah, daß sein Vater, wie üblich mit einem weißen T-Shirt und blauen Arbeitshosen, sich in der Garage über irgendein Gerät beugte. Ed Fiske lebte zwar im Ruhestand, war aber noch immer am glücklichsten, wenn er die Finger voller Schmieröl und das Innenleben einer komplizierten Maschine in einem heillosen Durcheinander vor sich ausgebreitet hatte.
»Im Kühlschrank ist kaltes Bier«, sagte Ed, ohne aufzuschauen.
Fiske öffnete den alten Kühlschrank, den sein Vater in die Garage gestellt hatte, und nahm sich eine Flasche Miller. Er setzte sich auf einen wackeligen alten Küchenstuhl und schaute seinem Vater bei der Arbeit zu, so wie er es schon als kleiner Junge getan hatte. Es hatte ihn immer fasziniert, wie geschickt sein Vater mit den Händen war, wie er ganz genau zu wissen schien, wohin jedes Teil gehörte.
»Ich war heute bei Mom.«
Mit einer geübten Drehung der Zunge schob Ed die Zigarette, die er gerade rauchte, in den rechten Mundwinkel.
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