Die Wahrheit
Philosophie. Natürlich, auch sie zog die Auswirkungen der Entscheidungen dieses höchsten Gerichts in Betracht, war aber auch um Fairneß gegenüber den tatsächlich betroffenen Parteien bemüht - mit der Konsequenz, daß sie bei ziemlich vielen Fällen das Zünglein an der Waage war. Aber dagegen hatte sie nichts einzuwenden. Sie war kein Mauerblümchen, und sie war schließlich hierhergekommen, um etwas zu bewirken.
Erst hier, an diesem Gericht, war ihr deutlich geworden, wie bedeutend und folgenschwer ihre Entscheidungen sein konnten. Und die Verantwortung, die mit solch einer Macht einherging, erfüllte sie mit Demut. Und machte ihr Angst. Ließ sie hellwach an die Decke starren, während ihr Mann neben ihr fest schlief.
Trotzdem - dachte sie und lächelte - wärst du an keinem Ort lieber als an diesem, hättest du im Leben nichts lieber getan als das, was du nun tust.
KAPITEL 8
John Fiske betrat das Gebäude im West End von Richmond. Offiziell trug es die Bezeichnung >Altenheim<, doch in Wirklichkeit war es ein Hospiz. Ein Haus, in das die Alten und Kranken kamen, um zu sterben. Als Fiske durch den Korridor ging, versuchte er, das Stöhnen und Schreien zu ignorieren. Er sah die Menschen mit ihren ausgezehrten Körpern, den tief gesenkten Köpfen, den kraftlosen Gliedmaßen, wie sie in Rollstühlen saßen, die wie Einkaufswagen an der Wand standen.
Es hatte aller Entschlossenheit bedurft, die er und sein Vater aufbringen konnten, um Johns Mutter in dieses Heim zu bringen. Michael Fiske hatte nie der Tatsache ins Auge gesehen, daß seine Mutter keinen Verstand mehr besaß. Ihr Geist war von der Alzheimerschen Krankheit zerstört. An die guten Zeiten erinnerte man sich gern, doch was ein Mensch wirklich wert war, erkannte man daran, wie er sich in schlechten Zeiten verhielt. Soweit es John Fiske betraf, hatte sein Bruder bei dieser Prüfung jämmerlich versagt.
John trug sich beim Empfang ein. »Wie geht es ihr heute?« fragte er die Angestellte. Da er oft hier war, kannte er jeden vom Personal.
»Es ging ihr schon mal besser, John, aber Ihr Besuch wird sie aufmuntern«, antwortete die Frau.
»Sicher«, murmelte Fiske, während er zum Besucherraum g in g.
Seine Mutter erwartete ihn dort, wie immer mit Morgenmantel und Pantoffeln bekleidet. Ihre Blicke schweiften ziellos durch den Raum, ihr Mund bewegte sich, doch es kamen keine Worte über ihre Lippen. Als Fiske an der Schwelle erschien, schaute sie ihn an, und ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. John ging zu ihr, setzte sich ihr gegenüber.
»Wie geht es meinem Mikey?« fragte Gladys Fiske und rieb zärtlich sein Gesicht. »Wie geht es meinem Baby?«
Fiske atmete tief ein. Seit zwei Jahren ging das jetzt schon so. Es war immer dasselbe: In Gladys Fiskes zerrüttetem Verstand war er Mike, der kleine Bruder, würde es immer sein, bis zum letzten ihrer Tage. John war völlig aus dem Gedächtnis seiner Mutter verschwunden, als wäre er nie geboren.
Er berührte sanft ihre Hände, gab sein Bestes, seine Verzweiflung, den Schmerz und die Enttäuschung zurückzuhalten. »Mir geht es gut. Wirklich prima. Dad geht es auch gut. Und auch Johnny«, fügte er dann leise hinzu. »Er hat nach dir gefragt. Er fragt ständig nach dir.«
Ihr Blick war leer. »Johnny?«
Fiske versuchte es jedesmal, und jedesmal bekam er dieselbe Antwort. Warum hatte sie ihn vergessen und nicht seinen Bruder? Irgendeine Erinnerung mußte tief in Gladys’ Innerem verwurzelt sein - irgend etwas, das es der Alzheimerschen Krankheit ermöglicht hatte, Johns Persönlichkeit aus ihrem Leben zu löschen. War seine Existenz nie so bedeutsam, nie so wichtig für sie gewesen? Er war der Sohn gewesen, der immer für seine Eltern dagewesen war. Er hatte ihnen als Junge geholfen, und nun half er ihnen als erwachsener Mann. Er hatte alles für sie getan. Er hatte sie mit einem Großteil seines Einkommens unterstützt. Er war an einem drückend heißen Augusttag, mitten in einem höllischen Prozeß, auf eine Leiter gestiegen, um seinem alten Herrn beim Dachdecken zu helfen, weil der kein Geld für einen Handwerker hatte. Und doch war immer Mike der Lieblingssohn gewesen, obwohl er seine eigenen Wege gegangen war, seine eigenen selbstsüchtigen Wege, dachte Fiske. Mike war stets der Hoffnungsträger gewesen, der Sohn, der seiner Familie Ehre machen würde.
Aber so ganz stimmte das nicht, das wußte er. So extrem waren seine Eltern nie gewesen, was ihre Liebe zu den Söhnen betraf, ihre
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