Die Wahrheit
steigst doch nicht mal gern auf einen Stuhl, Pop.«
Fiske zog die Jacke aus, holte eine Leiter aus der Garage und nahm die Lötlampe, die sein Vater ihm gab. Er entzündete sie, stellte die Leiter unter das prallrunde Nest und stieg hinauf. Es dauerte ein paar Minuten, doch das Nest löste sich unter der Hitze der Flamme langsam auf. Fiske stieg die Leiter hinunter und stellte den Brenner ab, während sein Vater die Überreste des Nests zusammenharkte.
»Gerade hast du gesehen, was für ein Problem ich mit Mike habe.«
»Was?« Verwirrt schaute sein Vater ihn an.
»Wann war Mike zum letztenmal hier, um dir zu helfen? Verdammt noch mal, wann hat er dich oder Mom das letzte Mal auch nur besucht?«
Ed kratzte an seinen Bartstoppeln und kramte in der Hosentasche nach einer Zigarette. »Er hat viel zu tun. Er kommt, sooft er kann.«
»Aber sicher.«
»Er tut wichtige Arbeit für die Regierung. Hilft den vielen Richtern. Verflixt, es ist das höchste Gericht im Land, das weißt du doch.«
»Tja, Pop, auch ich hab’ ziemlich viel zu tun.«
»Das weiß ich, mein Sohn. Aber ...«
»Aber bei mir ist es etwas anderes, ich weiß.« Fiske warf sich die Jacke über die Schulter und wischte sich den Schweiß aus den Augen. Die Moskitos würden bald hervorkommen. Das ließ ihn an Wasser denken. Sein Vater hatte auf einem Campingplatz unten am Mattaponi River einen Wohnwagen stehen. »Warst du in letzter Zeit mal beim Wohnwagen?«
Erleichtert über den Themenwechsel schüttelte Ed den Kopf. »Nee, aber ich will bald mal hinfahren. Ich will noch mal mit dem Boot raus, bevor es zu kalt wird.«
Fiske rieb sich eine weitere Schweißperle von der Stirn. »Sag mir Bescheid, vielleicht fahre ich mit.«
Ed musterte seinen ältesten Sohn. »Wie geht’s dir so?«
»Beruflich? Hab’ diese Woche zwei Fälle gewonnen und zwei verloren. Das ist heutzutage ein ganz guter Durchschnitt.«
»Sei vorsichtig, mein Junge. Ich weiß, du glaubst an das, was du tust, aber es sind verdammt gefährliche Leute, für die du als Anwalt arbeitest. Einige von denen erinnern sich vielleicht noch aus deiner Zeit als Cop an dich. Ich liege nachts oft wach und muß darüber nachdenken.«
Fiske lächelte. Er liebte seinen Vater genauso sehr wie seine Mutter, ja auf irgendeine schwer deutbare Weise, wie sie für Männer typisch war, vielleicht sogar mehr. Der Gedanke, daß sein Vater seinetwegen manchmal noch immer nicht schlafen konnte, war sehr beruhigend. John gab dem alten Mann einen Klaps auf den Rücken.
»Keine Sorge, Pop, ich bin immer sehr vorsichtig.«
»Und was ist mit der anderen Sache?«
Unbewußt berührte Fiske seine Brust. »Mir geht’s ganz prima. Wahrscheinlich werde ich hundert Jahre alt.«
»Das hoffe ich, Junge«, sagte sein Vater mit großer Überzeugung, als er seinem Sohn hinterherschaute, während er zum Wagen ging.
Ed schüttelte den Kopf, als er darüber nachdachte, wie weit seine Söhne sich voneinander entfernt hatten und daß er nichts dagegen hatte tun können. »Verdammt.« Mehr fiel ihm nicht dazu ein. Er setzte sich wieder auf den Werkzeugkasten und trank die Flasche Bier aus.
KAPITEL 9
Es war noch früh am Morgen, als Michael Fiske leise summend durch den breiten Korridor mit der hohen Decke zur Poststelle ging. Als er den Raum betrat, schaute ein Verwaltungsangestellter auf. »Sie haben sich einen günstigen Zeitpunkt ausgesucht, Michael. Wir haben gerade eine Lieferung hereinbekommen.«
»Ist Knastpost dabei?« fragte Michael. Er bezog sich damit auf den immer größer werdenden Anteil, den Petitionen von Häftlingen ausmachten. Die meisten wurden in forma pauperis eingereicht, was wörtlich »nach Beschaffenheit des Armen« bedeutete. Man unterhielt eine eigene Ablage für diese Petitionen, und sie war so groß, daß ein Angestellter eigens für sie abgestellt worden war. In den IFPs, wie sie vom Gerichtspersonal genannt wurden - den Anträgen zur Prozeßkostenbeihilfe -, fand man zumeist vollkommen idiotische Gesuche, die allenfalls zur Belustigung dienten, gelegentlich aber auch einen Fall, der die Aufmerksamkeit des Gerichts verdiente. Michael wußte, daß einige der wichtigsten Urteile aufgrund von IFP-Fällen gesprochen worden waren - deshalb seine frühmorgendliche gewohnte Suche nach Berufungsgold in dieser Mine aus Papier.
»Den handschriftlichen Kritzeleien zufolge, die ich bislang zu entziffern versucht habe, würde ich sagen, daß man durchaus davon ausgehen kann«, erwiderte der
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