Die Wahrheit
für Michael quälend langsam dahin. Wiederholt ertappte er sich dabei, wie er seinen Aktenkoffer anstarrte und an den Inhalt dachte. Als er spätabends endlich mit der Arbeit fertig war, trat er wild in die Pedale und radelte zu seiner Wohnung auf dem Capitol Hill. Er schloß die Tür hinter sich ab und nahm den Umschlag aus der Tasche. Dann holte er sich einen Notizblock und brachte alles zu dem kleinen Eßtisch.
Eine Stunde später lehnte er sich zurück und betrachtete die zahlreichen Notizen, die er gemacht hatte. Er klappte seinen Laptop auf, tippte die Aufzeichnungen ein und speicherte sie auf der Festplatte. Dabei veränderte er sie, formulierte sie um, überdachte sie noch einmal, wie es seit langem seine Gewohnheit war. Er hatte beschlossen, dieses Problem so anzugehen, wie er es bei jedem anderen auch getan hätte. Er würde die Informationen in der Petition so sorgfältig wie möglich überprüfen. Am wichtigsten aber war die Bestätigung, daß es sich bei den Namen, die in der Petition genannt wurden, tatsächlich um jene Personen handelte, die Michael dahinter vermutete. War der Antrag begründet, würde er ihn in die Poststelle zurückschmuggeln. Erwies er sich als belanglos - als das Werk eines Geistesgestörten oder eines Gefangenen, der blindlings um sich schlug -, würde Michael den Antrag vernichten.
Michael schaute aus dem Fenster und über die Straße hinweg zu den dicht an dicht stehenden Reihenhäusern, die nun zu Gebäuden mit Apartments wie diesem umgebaut wurden. Überall in diesem Viertel wohnten junge Regierungsangestellte. Die Hälfte von ihnen war noch in den Büros, der Rest lag im Bett und wurde von Alpträumen über noch unerledigte Arbeiten von nationaler Bedeutung geplagt, vermutlich so lange, bis morgens um fünf der Wecker klingelte. Das Dunkel, in das Michael starrte, wurde nur vom trüben Licht einer Straßenlampe an der Ecke unterbrochen. Der Wind hatte an Heftigkeit zugenommen, und der heraufziehende Sturm hatte die Temperaturen sinken lassen. Der Heizkessel des alten Gebäudes war noch nicht eingeschaltet, und plötzlich drang die Kälte durchs Fenster und ließ Michael frösteln. Er holte sich ein Sweatshirt aus dem Schrank, streifte es über, kehrte zum Fenster zurück und schaute wieder hinaus auf die Straße.
Er hatte noch nie von Rufus Harms gehört. Den Angaben im Brief zufolge war Michael erst fünf Jahre alt gewesen, als der Mann ins Gefängnis gekommen war. Die Rechtschreibung im Brief war katastrophal, die Ausformung der Buchstaben und Worte unbeholfen. Mike fühlte sich an die ersten Schreibversuche eines Kindes erinnert. Der zweite, maschinengeschriebene Brief erklärte einige der Hintergründe des Falles und war offensichtlich von einer wesentlich gebildeteren Person verfaßt worden. Vielleicht von einem Anwalt, dachte Michael. Die Ausdrucksweise ließ darauf schließen, daß er von einem Fachmann stammte, der versucht hatte, seinen Beruf - ebenso seine Identität - zu verbergen. Dem maschinengeschriebenen Brief zufolge hatte die Army in ihrem Schreiben Rufus Harms um bestimmte Informationen gebeten. Doch Harms bestritt, je an dem Programm teilgenommen zu haben, an dem er den Unterlagen der Army zufolge mitgewirkt hatte. Es sei die Tarnung für ein Verbrechen gewesen, behauptete Harms, das zu einem schrecklichen Justizirrtum geführt hatte - zu einem juristischen Fiasko, das ihn fünfundzwanzig Jahre seines Lebens gekostet hatte.
Plötzlich wurde Michael warm, und er drückte das Gesicht gegen das kühle Fenster und atmete tief ein. Die Luft ließ das
Glas beschlagen. Was er tat, war eine unverfrorene Einmischung in das Recht eines Bürgers, seine Ansprüche vor Gericht durchzusetzen. Sein Leben lang hatte Michael an das unveräußerliche Recht des einzelnen geglaubt, Zugang zum Gesetz zu haben, ganz gleich, wie reich oder arm er war. Ein so grundlegendes Recht konnte man nicht widerrufen oder für nichtig erklären. Er tröstete sich ein wenig mit dem Gedanken, daß der Antrag aufgrund einer Reihe von Formfehlern ohnehin zurückgewiesen worden wäre.
Aber bei diesem Fall lag es anders. Selbst wenn die Behauptungen unrichtig waren, konnten sie dem Ruf einiger sehr einflußreicher Leute schrecklichen Schaden zufügen. Und wenn sie sich als wahr erwiesen? Michael schloß die Augen. Lieber Gott, bitte, laß es nicht so weit kommen, betete er.
Er drehte den Kopf, schaute zum Telefon. Plötzlich fragte er sich, ob er seinen Bruder anrufen und um Rat bitten
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