Die Wahrheit
Virginia. Fort Jackson. Um mit Rufus Harms zu sprechen.
Einen Moment überlegte er, ob er bei seinem Bruder vorbeifahren sollte. John hatte nicht zurückgerufen - was Michael allerdings nicht sonderlich verwunderte. Aber die Reise, die er nun antrat, barg einige persönliche Risiken, und Michael hätte nichts dagegen gehabt, den Rat seines Bruders zu hören, sich vielleicht sogar von ihm begleiten zu lassen. Dann aber schüttelte er den Kopf. John Fiske war ein vielbeschäftigter Anwalt und hatte keine Zeit, durch den halben Staat zu fahren und den verrückten Theorien seines jüngeren Bruders hinterherzujagen. Michael mußte allein damit fertig werden.
Wie so oft, stand Elizabeth Knight früh auf, machte ein paar Dehnübungen auf dem Fußboden und lief dann auf dem Laufband im Gästezimmer der Wohnung im Watergate-Gebäude, die sie und ihr Ehemann, Senator Jordan Knight, gemietet hatten. Elizabeth duschte, zog sich an, machte Kaffee und Toast und sah einige Memos durch, um sich auf eine mündliche Verhandlung in der nächsten Woche vorzubereiten.
Heute war Freitag, also würden die Richter einen Teil des Tages mit Besprechungen verbringen und über Fälle abstimmen, die sie bereits gehört hatten. Ramsey leitete diese Konferenzen nach einem engen Terminplan. Zu Elizabeth’ Bedauern fanden bei diesen Zusammenkünften kaum Diskussionen statt. Ramsey faßte die wichtigsten Punkte eines jeden Falles zusammen, gab seine Stimme mündlich ab und wartete, bis die anderen Richter ebenfalls votiert hatten. Wenn Ramsey die Mehrheit besaß, und das war normalerweise der Fall, verfaßte er selbst die Begründung. Hatte er die Mehrheit nicht, wurde die Begründung von dem beisitzenden Richter der Gegenseite verfaßt, der sein Amt am längsten innehatte. Normalerweise war Murphy dieser Mann, denn als ideologische Gegner stimmten er und Ramsey nur selten gleich ab.
Während Richterin Knight ihren Kaffee trank, dachte sie über ihre ersten drei Jahre am Gericht nach. Sie waren wirklich rasend schnell vergangen. Vielfach ging man davon aus, daß Richterin Knight nicht nur für die Rechte der Frauen eintrat, sondern sich auch für Interessen stark machte, die viele Frauen traditionell unterstützten - eben weil auch sie eine Frau war. Niemandem schien klar zu sein, daß man sie damit in ein Klischee preßte. Elizabeth Knight war Richterin, keine Politikerin. Sie mußte jeden Fall einzeln bewerten, für sich selbst, so wie sie es bereits als Richterin an anderen Gerichten getan hatte. Dennoch mußte sogar sie eingestehen, daß der Supreme Court etwas anderes war, etwas Besonderes. Die Urteile, die von hier aus ergingen, hatten eine so weitreichende Bedeutung, daß die Richter gezwungen waren, stets über den Sachverhalt eines bestimmten Falles hinauszuschauen und die Auswirkungen zu bedenken, die ihre Entscheidung auf alle anderen hatte. Und das fiel Elizabeth Knight unglaublich schwer.
Sie schaute sich in der luxuriösen Wohnung um. Sie und ihr Mann führten ein Leben, dem es an nichts fehlte. Häufig bezeichnete man sie als das mächtigste Paar der Hauptstadt. Und in gewisser Hinsicht waren sie das auch.
Elizabeth trug diesen Mantel, so gut sie konnte, auch wenn sie nun gegen die Isolation ankämpfen mußte, die jeder Richter zu ertragen hatte. Wenn man an dieses Gericht berufen wurde, riefen plötzlich Freunde nicht mehr an, und die Leute behandelten einen anders, waren vorsichtiger, achteten darauf, was sie sagten. Elizabeth war stets gesellig und kontaktfreudig gewesen. Nun hatte sie diese Eigenschaften beinahe verloren. Sie klammerte sich an das Berufsleben ihres Mannes, um die Auswirkungen dieser abrupten Veränderung in ihrem Leben zu mindern. Manchmal kam sie sich wie eine Nonne vor, die mit acht Mönchen als lebenslangen Gefährten lebte.
Als hätte er auf ihre Gedanken reagiert, trat Jordan Knight, noch im Schlafanzug, hinter Elizabeth und umarmte sie.
»He, es gibt noch kein Gesetz, das von dir verlangt, jeden Tag bei Morgendämmerung mit der Arbeit anzufangen. Es tut der Seele gut, sich noch ein bißchen ins Bett zu kuscheln«, sagte er.
Sie küßte seine Hand, drehte sich um und umarmte ihn ebenfalls.
»Ich kann mich gar nicht erinnern, daß du ein Langschläfer bist, Senator.«
»Dann sollten wir beide wohl eine konzertierte Aktion in Erwägung ziehen. Wer weiß, wozu das führen könnte? Ich habe gehört, Sex ist das beste Mittel gegen das Altern.«
Jordan Knight war groß und kräftig gebaut, mit sich
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