Die Wahrheit
Die Gäste waren eine interessante Mischung aus Arbeitern und Büroangestellten aus der Innenstadt. Fiske saß zwischen zwei Bauarbeitern, deren gelbe Schutzhelme vor ihnen auf dem Tresen lagen. Fiske zog seine Jacke aus und setzte sich darauf. Seine Schultern waren genauso breit wie die der stämmigen Männer neben ihm. Sara fiel auf, daß sein Hemd nicht mehr ordentlich in der Hose steckte und hinten heraushing. Sein dunkles Haar bedeckte den Hals und fiel bis auf den Kragen des weißen Oberhemdes. Sara konnte kaum den Blick davon lösen.
Er sprach mit den Männern, die neben ihm saßen. Die Arbeiter lachten herzhaft über irgend etwas, das er gesagt hatte, und Sara ertappte sich dabei, daß sie lächelte, obwohl sie die Bemerkung nicht gehört hatte. Schließlich kam eine Kellnerin, und Sara bestellte ein Ginger Ale. Sie beobachtete weiterhin Fiske an der Bar. Er scherzte nicht mehr herum. Er starrte so intensiv die Wand an, daß auch Sara unwillkürlich hinüberschaute. Sie sah dort lediglich ordentlich aufgereihte Bier- und Schnapsflaschen; Fiske hingegen erblickte dort offensichtlich viel mehr.
Er hatte bereits sein zweites Bier bestellt; als er es serviert bekam, hielt er sich die Flasche an die Lippen, bis sie leer war. Sara stellte fest, daß er große Hände mit dicken, kräftig aussehenden Fingern besaß. Sie sahen nicht wie die Hände eines Mannes aus, der ständig einen Bleistift schwang oder vor einem Computermonitor saß.
Fiske legte ein paar Scheine auf den Tresen, nahm seine Jacke und drehte sich um. Einen Moment lang glaubte Sara, seinen Blick zu spüren. Er zögerte kurz; dann zog er die Jacke an. Sara saß ganz hinten in einer dunklen Ecke. Sie glaubte nicht, daß Fiske sie gesehen hatte. Aber warum hatte er dann gezögert? Jetzt wurde sie doch ein wenig nervös. Sie wartete noch eine Minute, legte dann ein paar Scheine auf den Tisch, erhob sich und ging.
Als Sara wieder ins Sonnenlicht trat, sah sie Fiske nicht mehr. Er war so plötzlich verschwunden wie in einem Traum. Impulsiv kehrte Sara in die Bar zurück und fragte den Barkeeper, ob er John kenne. Der Mann schüttelte den Kopf. Sara wollte noch ein paar Fragen stellen, doch der Gesichtsausdruck des Barkeepers besagte, daß er nicht besonders auskunftsfreudig war.
Die Bauarbeiter beäugten Sara mit ziemlichem Interesse. Sie beschloß, die Bar zu verlassen, bevor es unangenehm für sie werden konnte. Sie ging zurück zu ihrem Wagen und stieg ein. Ein Teil von ihr wünschte sich, sie wäre Fiske irgendwie begegnet, der andere Teil war froh, daß es nicht dazu gekommen war. Was hätte sie auch zu ihm sagen sollen? Hallo, ich bin eine Kollegin Ihres Bruders, und ich beschatte Sie in gewisser Weise?
Sara war an diesem Abend nach Nordvirginia zurückgefahren, hatte ebenfalls zwei Bier getrunken und war in der Hollywoodschaukel auf ihrer Veranda eingeschlafen. Auf derselben, auf der sie nun saß, eine Zigarette rauchte und den Himmel beobachtete. Das war das letzte Mal gewesen, daß sie John Fiske gesehen hatte. Es war etwa vier Monate her.
Da sie den Mann nicht einmal kannte, konnte sie ihn schwerlich lieben; eine gewisse Vernarrtheit war wohl wahrscheinlicher. Sollte sie John Fiske jemals kennenlernen, würde vielleicht schon das erste Gespräch den Eindruck zunichte machen, den sie von ihm gewonnen hatte.
Doch Sara glaubte nicht an das Schicksal. Wenn sich zwischen ihr und John Fiske irgend etwas entwickeln sollte, würde sie selbst wohl den ersten Zug machen müssen. Sie hatte aber nicht die geringste Ahnung, wie dieser Zug aussehen sollte.
Sara drückte die Zigarette aus und schaute zum Himmel empor. Jetzt wäre sie gern gesegelt. Sie wollte den Wind im Haar spüren, das Kitzeln der Gischt auf ihrer Haut, das Brennen der Taue auf ihren Handflächen. Aber im Augenblick wollte sie nichts davon allein erleben. Sie wollte mit jemandem Zusammensein, mit einem ganz bestimmten Menschen. Doch dem wenigen nach, was Michael ihr über John Fiske erzählt und Sara selbst von dem Mann gesehen hatte, bezweifelte sie, daß es jemals dazu kommen würde.
Hundertfünfzig Kilometer südlich von Saras Haus schaute auch John Fiske kurz in den Himmel, als er aus seinem Wagen stieg. Der Buick stand nicht auf der Einfahrt, aber Fiske hatte sowieso nicht seinen Vater besuchen wollen. Abgesehen von zwei Teenagern, die zwei Häuser weiter an einem Chevy mit einem dermaßen gewaltigen Motor arbeiteten, daß man glauben konnte, er habe die Motorhaube gesprengt,
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