Die Wahrheit
lichtendem Haar und gebräuntem, tief zerfurchtem Gesicht. Es war ungerecht, daß die Welt das körperliche Erscheinungsbild von Männern und Frauen so unterschiedlich betrachtete, doch Knight wirkte auch mit seinen Falten und den überschüssigen Pfunden stattlich. Er machte auf den Seiten der Post und der örtlichen Zeitungen eine ziemlich gute Figur, wie auch in den bundesweiten Fernsehsendungen, in denen er sogar die gewieftesten Experten für Politik oft mit seinem Witz, seiner Erfahrung und Intelligenz beeindruckte.
»Du hast in der Tat einige sehr interessante Ansichten.«
Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, während sie ihre Papiere ordnete.
»Ramsey umgarnt dich noch immer, in sein Lager überzulaufen und schön brav so zu stimmen wie er?«
»Oh, er drückt auf sämtliche richtigen Knöpfe und sagt sehr nette Sachen. Doch einige meiner jüngsten Entscheidungen sind wohl nicht so gut bei ihm angekommen.«
»Geh deinen eigenen Weg, wie du es immer schon getan hast, Beth. Du bist klüger als sie alle. Verdammt, du müßtest Oberste Richterin sein.«
Sie legte einen Arm um seine breiten Schultern. »Und du vielleicht Präsident?«
Er zuckte mit den Achseln. »Der Senat dürfte für mich Herausforderung genug sein. Wer weiß, das ist vielleicht die letzte Runde für meine Wenigkeit.«
Sie zog den Arm zurück. »Darüber müssen wir uns noch unterhalten.«
»Ich weiß. Wir haben beide viel zu tun. Zu viele Anforderungen an unsere Zeit. Sobald die Dinge sich etwas beruhigt haben, werden wir uns unterhalten. Ich glaube, wir müssen wirklich miteinander sprechen.«
»Das hört sich aber ernst an.«
»Wir können nicht ewig in dieser Tretmühle weitermachen, Beth.«
Sie stieß ein besorgtes Lachen aus. »Ich fürchte, ich habe mich lebenslang dazu verpflichtet.«
»Das ist das Gute an der Politik. Man kann sich stets dazu entschließen, nicht mehr zu kandidieren. Oder man kann seinen Sitz verlieren.«
»Ich dachte, du wolltest noch viel mehr erreichen.«
»Dazu wird es nicht kommen. Zu viele Hindernisse. Zu viele Spielchen. Um dir die Wahrheit zu sagen, ich bin das alles ziemlich leid.«
Beth Knight wollte etwas sagen, hielt dann aber inne. Sie hatte sich voll und ganz auf das »Spiel« am Obersten Gerichtshof eingelassen.
Jordan Knight nahm seine Kaffeetasse und drückte Elizabeth einen Kuß auf die Wange. »Zeig’s ihnen, Frau Richterin.«
Als der Senator das Zimmer verließ, rieb sie sich an der Stelle, wo er sie geküßt hatte, das Gesicht ab. Sie versuchte, sich wieder auf ihre Papiere zu konzentrieren, konnte es aber nicht. Sie saß einfach da, und ihre Gedanken wirbelten in viele unterschiedliche Richtungen davon.
John Fiske hielt das Foto in der Hand, das ihn und seinen Bruder zeigte. Er saß schon seit mindestens zwanzig Minuten dort, hatte das Foto in dieser Zeit aber kaum einmal angesehen. Schließlich stellte er es in den Bücherschrank, ging zum Telefon und wählte Michaels Nummer.
Er hörte die Tonbandstimme des Anrufbeantworters und machte sich gar nicht erst die Mühe, eine Nachricht zu hinterlassen. Dann rief er beim Obersten Gerichtshof an, erfuhr aber, daß Michael noch nicht da war. Eine halbe Stunde später rief John noch einmal an, und ein anderer Assessor teilte ihm mit, daß Michael an diesem Tag überhaupt nicht kommen würde.
Das ist mal wieder typisch, dachte er. Da hatte er endlich allen Mut zusammengenommen und seinen Bruder angerufen, mit dem Erfolg, ihn nicht erreichen zu können. Aber war es das wirklich - Mut? John setzte sich an den Schreibtisch und versuchte zu arbeiten, doch seine Blicke schweiften immer wieder zu dem Foto hinüber.
Schließlich packte er seinen Aktenkoffer, dankbar, daß er zum Gericht mußte und damit vor einigen nagenden Gefühlen fliehen konnte.
Im Lauf des Vormittags hatte er zwei Verhandlungen unmittelbar hintereinander. Die eine gewann er überzeugend; bei der anderen wurde er vom Richter auseinandergenommen, der sich offenbar keine Gelegenheit entgehen ließ, Fiskes Argumente ins Lächerliche zu ziehen, während der stellvertretende Staatsanwalt daneben stand und sich höflich ein Lächeln verkniff. Man mußte die professionelle Fassade wahren; beim nächstenmal konnte man selbst durch die Mangel gedreht werden. Das war jedem hier klar. Oder zumindest denen, die sich daran hielten.
Anschließend fuhr Fiske ins Gefängnis der Stadt Richmond, danach in den Knast des Bezirks Henrico - beide Male, um mit
Mandanten zu sprechen. Mit
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