Die Wahrheit
war in der Nachbarschaft alles ruhig.
Fiske hatte den ganzen Tag bei Gericht verbracht. Er hatte seinen Fall ungeschminkt vorgetragen, bis ins kleinste Detail. Der stellvertretende Staatsanwalt hatte erbarmungslos auf einen Schuldspruch hingearbeitet. Acht Stunden eindringliche Wortgefechte - und Fiske hatte kaum Zeit gehabt, aufs Klo zu gehen und zu pinkeln, als die Geschworenen auch schon mit dem Schuldspruch zurück in den Gerichtssaal kamen. Es war die dritte Verurteilung seines Mandanten. Der Mann war endgültig weg vom Fenster.
Die Ironie an der Sache war nur, daß Fiske ihn in diesem Fall tatsächlich für unschuldig hielt - was er von den meisten seiner Mandanten nicht behaupten konnte. Aber der Bursche hatte so viele andere krumme Dinger gedreht, daß die Geschworenen es ihm vielleicht unbewußt heimzahlen wollten. Hinzu kam, daß Fiske wohl eher an Altersschwäche sterben würde, bevor er von seinem Mandanten den Rest des Honorars bekam. Lebenslängliche gaben sich nur selten Mühe, ihre Schulden zu begleichen, besonders, wenn es sich um Schulden gegenüber dem Anwalt handelte, der für ihre Verurteilung verantwortlich war.
Fiske ging auf den Hof, öffnete die Seitentür der Garage, trat ein und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Die Feuchtigkeit lag noch immer wie ein nasses Tuch über dem Landstrich, und Fiske drückte sich die kalte Flasche an die Schläfe und ließ die Kühle tief einsickern. Ganz am Ende des Hofs standen ein paar schiefe Bäume und eine seit langer Zeit abgestorbene Weinrebe, die sich noch immer fest um rostige Pfähle und Stacheldraht schlang.
Fiske ging hinüber und lehnte sich gegen eine der Ulmen. Er schaute auf eine Stelle am Boden, an der kein Gras wuchs. Hier lag Bo begraben, der belgische Schäferhund, mit dem die Brüder Fiske aufgewachsen waren. Als ihr Vater den Hund eines Tages mit nach Hause gebracht hatte, war er nicht größer als Daddys Faust gewesen. Binnen eines Jahres war er zu einer breitbrüstigen, sechzig Pfund schweren, schwarz und weiß gezeichneten Schönheit geworden, die beide Jungs abgöttisch geliebt hatten, besonders Mike. Bo lief ihnen immer hinterher, wenn sie morgens Zeitungen austrugen, folgte ihnen über die gesamte Strecke. Sie hatten fast neun Jahre der innigen Freude miteinander verbracht, als Bo eines Tages nach einem Schlaganfall zusammengebrochen war, während Mike mit ihm spielte.
John hatte in seinem ganzen Leben noch nie jemanden so verzweifelt weinen sehen wie seinen Bruder. Weder seine Mutter noch der Vater konnten Mike trösten. Er hatte sich heulend in den Hof gesetzt, den buschigen Schwanz des Hundes gehalten und versucht, ihn wieder auf die Beine zu stellen, um im Sonnenschein mit ihm zu spielen. John hatte seinen Bruder an diesem Tag in den Armen gehalten, hatte mit ihm geweint und den reglosen Kopf ihres geliebten Schäferhundes gestreichelt.
Am nächsten Tag war Mike zur Schule gegangen, während John mit seinem Vater zu Hause blieb, um den Hund hier zu begraben. Als Mike heimgekommen war, hatten alle an einem kleinen Gottesdienst für Bo teilgenommen, der auf dem Hof abgehalten wurde. Mike hatte voller Inbrunst aus der Bibel gelesen; dann hatten die Brüder am Kopf des schlichten Grabes einen kleinen Grabstein aufgestellt, eigentlich mehr einen Hohlziegel, auf den sie mit einem Federhalter Bos Namen geschrieben hatten. Der Ziegel stand noch dort, aber die Tinte war längst schon verschwunden.
Fiske kniete nieder und fuhr mit der Hand durch das Gras, das an dieser von den Bäumen beschatteten Stelle ganz glatt und fein war. Herrgott, was hatten sie diesen Hund geliebt. Warum mußte die Vergangenheit so schnell zurückweichen? Warum hatte man stets den Eindruck, daß die guten Zeiten so kurz gewesen waren? Er schüttelte den Kopf - als die Stimme ihn plötzlich zusammenfahren ließ.
»Ich erinnere mich an den alten Hund, als wäre es gestern gewesen.«
John schaute auf zu Ida German, die auf der anderen Seite des Zaunes stand und ihn musterte. Er erhob sich und blickte ein wenig verlegen drein. »Es ist schon lange her, Mrs. German.«
Die Frau roch ständig nach Rindfleisch und Zwiebeln, genau wie ihr Haus, wie Fiske wußte. Seit fast dreißig Jahren war sie Witwe. Sie bewegte sich langsam; ihr Körper war verschrumpelt, untersetzt und dick. Ihr langer Hausmantel bedeckte venöse, fleckige Beine und gedunsene Fußgelenke. Doch mit fast neunzig Jahren waren ihr Verstand und ihre Aussprache noch klar.
»Bei mir ist
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