Die Wall Street ist auch nur eine Straße
schimpfen Politiker über die kommunistische Diktatur der Volksrepublik. Was für eine Diktatur ist das? Welcher Diktator? Wie heißt er? Die chinesische Regierung ändert sich automatisch alle fünf Jahre, und kein Anführer kann mehr als zwei Wahlperioden im Amt bleiben. Das ist wohl kaum eine Diktatur. Ein politischer Führer in China zu werden ist das Resultat eines gründlichen und sehr rigorosen Auswahlprozesses, bei dem man auf seine Tauglichkeit hin abgeklopft wird. Man muss sich 30 oder 40 Jahre lang nach oben arbeiten und wird ständig geprüft. Millionen von Menschen sind in der Kommunistischen Partei, und der Generalsekretär wird im Konsens ausgewählt – nach Jahren der Vorbereitung, in denen sich ein Kandidat bewähren muss. Das ist in mancher Hinsicht besser als das amerikanische System, in dem ein Mann mit Geld, der im Fernsehen eine gute Figur macht, Präsident werden kann, auch wenn er wenig mehr zu bieten hat als einen passenden Anzug und den richtigen Haarschnitt.
Hu Jintao, der KP-Generalsekretär und Staatspräsident Chinas war, trat von der erstgenannten Funktion 2012 zurück und wird die zweite 2013 abgeben. Das tut auch Wen Jiabao, der Vorsitzende des Staatsrats, mit dem er sich die Macht geteilt hat. Die Inhaber aller drei Ämter müssen sich verantworten. Das Geschwätz über eine Diktatur klingt für jeden idiotisch, der seine Hausaufgaben gemacht hat. Seit dem Tod Mao Zedongs gab es in China keinen Diktator mehr. In Russland ist Wladimir Putin ein Diktator. Er besitzt heute mehr Macht als irgendjemand in China. Die Einschränkungen im chinesischen System verhindern die Erlangung diktatorischer Macht. Ich sage keineswegs, dass dieses System das beste ist, aber ich weiß mit Sicherheit, dass es in China bisher funktioniert hat. Der Erfolg des Landes beweist das.
Als ich vor 30 Jahren zum ersten Mal nach China kam, gab es dort einen Radiosender, einen Fernsehsender, eine Zeitung und einen Kleidungsstil. Heute verfügt China über eine Vielzahl verschiedener Medien, und Millionen Menschen besitzen einen Internetanschluss. Jede Woche finden Demonstrationen in den Straßen statt. (Die chinesische Regierung sprach von 110 000 Demonstrationen im Jahr 2010.) Die Leute verlangen, was ihnen ihrer Meinung nach zusteht, ob es nun um einen betrügerischen Vermieter oder darum geht, einen Beamten der Korruption zu beschuldigen. Und in der Presse wird über diese Proteste berichtet. Man kann so etwas heute nicht mehr verbergen. Nicht im 21. Jahrhundert. Politische Führer werden zur Verantwortung gezogen. Als Reaktion auf die Verbitterung der Menschen wirft die Regierung Bürokraten ins Gefängnis und in manchen Fällen werden sie sogar hingerichtet. Im Dezember 2011 veranstalteten die Bewohner des Dorfes Wukan in der südchinesischen Provinz Guangdong eine große Demonstration und warfen die örtlichen Machthaber hinaus. Sie hielten eine Wahl ab und gestalteten die Verwaltung so, wie sie es für richtig hielten. China hat sich also sehr verändert. Es ist noch nicht so wie die Niederlande oder andere weit offene Länder, aber es hat sich mit Sicherheit weit geöffnet. Fraglos läuft dieser Prozess nicht fehlerfrei ab, doch das ist in unserem politischen System nicht anders. Unser System ist weit weniger rigoros, und das zeigt sich am Format unserer politischen Führer. Clinton, Bush, Obama … Könnte es noch schlechter werden?
Die führenden chinesischen Politiker geben ihre Ämter nach einer bestimmten Zeit freiwillig an sorgfältig ausgewählte, streng geprüfte Nachfolger ab. Ich bin sicher, dass Konfuzius dem aus ganzem Herzen zugestimmt hätte. Er war der Autor der Texte, die die gelehrten Verwaltungsbeamten oder Mandarine lernen mussten; die Klassiker, die die Grundlage des kaiserlichen Examens bildeten. Wer klug, intelligent und belesen war, erhielt eine leitende Stellung. Jahrhundertelang gab es in China landesweite Examina. Das Land weist eine lange Geschichte des Respekts und der Bewunderung für Gelehrte auf. Ich weiß nicht, ob das chinesische System deshalb das Beste ist, aber mit Sicherheit unterscheidet es sich von unserem System.
Viele Asiaten sagen, die asiatische Methode sei es, zunächst seine Wirtschaft zu öffnen, Wohlstand ins Land zu bringen und erst danach das politische System zu öffnen. Sie erklären, die Russen seien deshalb gescheitert, weil sie es umgekehrt gemacht haben. Russland öffnete sein politisches System, als es dort noch keine gesunde Wirtschaft gab. Jeder
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