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Die Wand der Zeit

Die Wand der Zeit

Titel: Die Wand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Bruce
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Strick dazu. Tod durch Erhängen. Das ist das Einfachste. Da gibt es kein Blut. Erbrochenes, Urin, ja, aber kein Blut. Außerdem geht es schnell und ist bei unseren begrenzten Mitteln praktisch. Den Strick kann man wiederverwenden. Natürlich werden den Verurteilten die Augen verbunden. Wir sind ja keine Hunde.«
    Jetzt sieht er mich an, schweigt aber immer noch. Ich glaube, er sieht mich an. Ich kann seine Augen nicht sehen.
    »Wir verbinden ihnen die Augen und binden die Hände zusammen, damit sie sie nicht bewegen können. Wir legen ihnen die Schlinge um den Hals, und es steht jemand bereit, der den Schemel unter ihnen wegtritt, wenn es so weit ist. Zuschauer sind nicht erlaubt. Nur der Henker und einer, der aufpasst, dass der Verurteilte nicht flieht. Dann begraben wir den Leichnam. In geringer Tiefe. Das Gesicht wird dabei zuletzt mit Erde bedeckt. Niemand liebt diese Arbeit, das Verscharren der Toten.
    Wenn Sie nicht reden, besteht die Gefahr, dass es Ihnenso ergeht. Vielleicht schickt man auch eine Abordnung nach Axum und ersucht um eine Erklärung, aber das wäre sehr aufwendig, und warum sollte man sich die Mühe machen? Weil die entfernte Möglichkeit besteht, dass die Grenzen bedroht sind? Die Anwesenheit eines Einzelnen, eines fettleibigen Beamten, wird davon wohl niemanden überzeugen.«
    Ich merke, dass ich die Stimme erhoben habe. Mir wird klar, dass ich recht haben könnte, dass sich Bran womöglich um diesen einen Mann nicht schert, dass die potenzielle Bedeutung seines Auftauchens vielleicht nicht erkannt wird. Wenn sie nicht wissen, wer er ist, wenn sie ihn nicht wiedererkennen – und dazu habe selbst ich, der mit ihm besonders vertraut war, eine Weile gebraucht –, dann erleiden wir beide ein und dasselbe Schicksal. Dann wird nichts den Hass aufhalten, der zehn Jahre Zeit zu gären hatte. Zehn Jahre, in denen die Angehörigen der zu Tode Gebrachten auf Rache sinnen konnten. Mir wird klar, dass es kein Zurück mehr gibt. Ich bin zu weit gegangen.
    Ich starre Andalus an, will ihn dazu bringen, mir zu antworten. Stundenlang sitze ich da und schaue, wie er mich anschaut. Es wird so dunkel, dass er mit der Höhlenwand verschmilzt, zu einem schwarzen Umriss wird. Seine Augen sind Löcher. Wenn ich meine Augen halb schließe, verschwindet er ganz, verschwindet er in der Höhle, im Fels, in der Erde. Er schweigt.

4
    Ausrüstung und Proviant sind bereits auf dem Floß und sicher an den Planken festgemacht. Ich setze Andalus mitten auf das Floß und schiebe es aufs offene Meer hinaus. Als mir das Wasser bis zur Taille geht, klettere ich an Bord. Ein paar Meter rudere ich noch, dann hisse ich das Segel. Es geht ein starker Wind, aber ich glaube nicht, dass er dem Mast etwas anhaben kann. Als sich das Segel in der Brise bläht, bin ich begeistert. Ich hätte nicht gedacht, dass dieses selbst gebaute, schwere Floß so schnell sein kann. Bald haben wir das Ende meiner Schwimmzone erreicht. Der Wind kommt von hinten, über die Insel. Ein paar Sekunden lang schließe ich die Augen. Ich spüre das brausende Wasser unter mir, den Wind, die Gischt.
    Ich sehe Tora am Ufer stehen. Jetzt hebt sie den Kopf. Sie ist zu weit weg, als dass ich ihr Gesicht sehen könnte.
    Hinter uns eine Kielwelle, ein Streifen ruhigeren Wassers, der bis zum Strand reicht. Lächelnd blicke ich noch einmal zur Insel.
    Einen Moment bevor es passiert, merke ich, dass etwas nicht stimmt. Der Mast legt sich schief, eine Ecke des Floßes geht unter, und die andere Seite hebt sich aus dem Wasser. Andalus kommt ins Rutschen, der Mast bricht und fällt nach vorn. Zu hören scheine ich davon nichts. Ich will Andalus etwas zurufen, bringe aber keinen Ton heraus. Er reagiert nicht. Der Mast fällt auf ihn, und ich sehe nur noch seine vomSegel wie in ein Leichentuch gehüllte Gestalt, als ich über Bord gehe.
    Das Wasser ist warm, wärmer als erwartet. Einen Moment lang möchte ich einschlafen, mich auf den Grund sinken lassen, den goldenen Sand, mich wie ein Baby in Seetang wickeln lassen. Es ist still hier: kein Wind, kein flatterndes Segel, nichts.
    Durch das Wasser sehe ich Andalus in seinem weißen Umhang. Ich sehe seine Gestalt vornübergebeugt am Bug kauern, gebrochen vom Licht, schimmernd wie ein Trugbild.
    Dann tauche ich hustend und prustend auf. Ich werfe den Kopf, und das Erste, was ich sehe, ist Andalus, der sich von dem Segel befreit hat, auf dem Floß steht und zu mir herüberschaut. Das Floß schaukelt auf den Wellen. Der kaputte Mast

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