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Die Wand der Zeit

Die Wand der Zeit

Titel: Die Wand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Bruce
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Nacken. Sehen kann ich sie nicht. Bin ich vorbei, starren sie hinter mir her.
    Und dann sehe ich jemanden. Sie steht am Ende der Straße. Ein Mädchen. Sie lässt die Arme hängen und schaut zu Boden. Sie trägt eine rote Jacke. Etwas an ihr frappiert mich. »Hallo«, rufe ich ihr zu. Als sie nicht reagiert, rufe ich noch einmal. Sie blickt nicht auf. Beim zweiten Mal dreht sie sich um und läuft davon, verschwindet um eine Ecke. Ich lasse sie. Wieder sind die Straßen verlassen.
    Ich gehe in dieselbe Richtung. Als ich um die Ecke biege, sehe ich geradeaus vor mir die Gebäude der Siedlungsverwaltung. Sie werden größer, als wir näher kommen. Zwei- und dreistöckige Holzbauten, die zerbrechlich aussehen, aber schon viele Jahre überstanden haben. Ich sehe, dass das Tor zu dem Komplex offen steht.
    Meine Schritte werden schneller. Wieder ziehe ich Andalus mit, und wir marschieren hin und gehen durchs Tor. Wir sind auf dem Hof. Ringsherum Türen zu diversen Ämtern, Beschwerde- und Zulassungsstellen. Die Türen haben dieselben weißen Schilder wie zu meiner Zeit, doch der Hof ist leer. Normalerweise trifft man hier zig Leute an, die etwas zu erledigen haben. Jetzt ist niemand da, und alle Türen sind zu. Ich blicke mich um und lasse Andalus’ Arm los.
    So habe ich mir das nicht vorgestellt. Es ist noch früh am Morgen, aber die Siedlung erwacht früh, und die Schaltzentralevon Bran kann sich keinen Stillstand leisten. Ich gehe zur ersten Tür. »Ministerium für Landwirtschaft« steht auf dem Schild. Ich schmunzle. Gerade ich hatte darauf bestanden, dass wir diesen Abteilungen große Namen geben. Sie sollten Zielbewusstsein vermitteln. Das einzige wirklich wichtige Büro in diesem Gebäude war mein eigenes. Dort wurden alle wichtigen Entscheidungen getroffen. Im Ministerium für Landwirtschaft wurden lediglich die Erträge unserer dem Boden abgetrotzten Ernten erfasst und unsere kleinen Viehherden registriert. Das Landwirtschaftszulassungsamt ließ weder Landwirtschaftsbetriebe zu, noch kontrollierte es die größeren Versorger. Es erteilte einzelnen Bürgern die Genehmigung, auf kleinen Parzellen bestimmte Nahrungsmittel für den allgemeinen Bedarf anzubauen. Mehr tat es nicht, und doch war es wichtig, weil eine solche Genehmigung für viele den Unterschied zwischen Bürgerstatus A oder B und Klasse C ausmachte. Oft standen die Antragsteller draußen Schlange, in der Mehrzahl alte Frauen, aber auch alte Männer. Ich weiß noch, wie ich in meinen Büroräumen stand, mich aus dem Fenster lehnte und auf diese Leute hinabschaute. Ich sah Toras Mutter in dem Gedränge. Ich gab Bescheid, dass ihr eine Genehmigung auszustellen sei. Es war ein Aufschub, wenn auch naturgemäß keine Begnadigung. Das Zulassungsamt ist ebenso geschlossen wie das Ministerium.
    Der Tod von Toras Mutter war keine einfache Geschichte, nicht so einfach, wie ich vielleicht suggeriert habe. Sie war beliebt in unserer Stadt. Stille und Düsterkeit kamen auf, als bekannt wurde, was mit ihr geschehen war. Ich musste zu ihr nach Hause gehen. Ich ging ohne Begleitung und schloss mir selber auf. Denn ich hatte es auf mich genommen, zu entscheiden, werder Klasse C zuzuordnen war. Ich übernahm das, damit es andere nicht machen mussten. Es ist keine angenehme Aufgabe, und ich bin kein mitleidloser Mensch. Ich schloss mir auf und trat zu ihr ans Bett. Ihre Augen waren geschlossen. Ich strich ihr mit den Fingern über die Wange. Die Haut alter Menschen kann sich leblos anfühlen, wie trockener Sand. Ihre war zudem kalt. Flatternd hob sich ein Augenlid. Sie sah mich mit dem einen Auge an. Es war weit geöffnet. Sie blinzelte nicht. Ich sah sie an und schwenkte die Hand vor ihrem Gesicht. Sie griff mit einem Arm nach mir. Es schien, als wollte sie die Lippen bewegen. Sie brachte nur einen Laut heraus, kein Wort. Ein Gurgeln. Es war Furcht. Angst vor mir, dem Todesboten.
    Ich wusste, dass die eine Seite ihres Körpers gelähmt war. Die Bestimmungen waren eindeutig. Sie musste hängen.
    Ich ließ einen Karren kommen. Besser gesagt, ich fuhr selbst mit. Nur ich und der Henker. Ein Soldat brauchte diesmal nicht dabei zu sein, da keine Fluchtgefahr bestand. Ich fuhr immer mit. Sie alle sollten Mitleid sehen vor ihrem Tod, sollten wissen, dass sie nicht umsonst hängen würden. Das lag in meiner Verantwortung.
    Ich hob sie aus dem Bett. Sie war erstaunlich schwer. Die Zunge wieder gurgelnd in Bewegung, das eine Auge geöffnet, schlug und trat sie mit dem gesunden

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