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Die Wand der Zeit

Die Wand der Zeit

Titel: Die Wand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Bruce
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Arm, dem gesunden Bein um sich. Ich legte sie in den Karren und geleitete sie zum Stadttor hinaus. Es war nach Sonnenuntergang, aber Vollmond. Der Henker zog den Karren hinter sich her. Dann krachte es laut, und der Karren kam ins Kippen. Eine Achse war gebrochen. Ich lief schnell hin, aber zu spät. Er legte sich auf die Seite, und sie fiel heraus. Die Decke rutschte ihr von den Beinen. Im Mondschein sah ich die Adern und die blauen Flecke. Der Körper einer alten Frau. Ich setzte sie aufrecht hin. Ihr Kopf kippte zurSeite, und ich hielt ihn fest. Sie atmete jetzt schnell. Ich fühlte eine warme Flüssigkeit auf meiner Hand. Sie hatte sich bei dem Sturz am Gesicht verletzt und blutete stark. So viel Blut von einer Halbtoten. Ich wischte mir die Hand am Boden ab. Ich hob sie auf und legte sie mir über die Schulter. Durch die Kleider spürte ich sie, fühlte ich ihr Herzklopfen. Eine gebrochene Frau mit einem so kräftigen Herzschlag, dass ich ihn durch die Jacke spürte.
    Unterwegs übergab sie sich. Ich war voll von ihrem Erbrochenen. Ich musste würgen. Aber ich blieb standhaft. Ich trug sie bis zu den Bäumen und setzte sie ab. »So«, sagte ich zu dem Henker. Er rührte sich nicht. Ich ging zu ihm und ohrfeigte ihn mit dem Handrücken. »Tun Sie Ihre Pflicht«, befahl ich ihm. »Das ist Ihr Beitrag.«
    Hinter mir hörte ich ein Wimmern. Ich kniete mich vor sie hin. Ich wischte ihr das Erbrochene vom Mund, das Blut aus dem Gesicht. Ich wollte ihr etwas sagen. Ihr etwas zuflüstern, damit der Henker es nicht hörte. Ich wollte leise etwas zu ihr sagen, das ihr die Angst nahm, damit sie das alles verstand, damit sie nicht sah, wie ich sie hier zum Sterben fertig machte. Ich hatte mir etwas zurechtgelegt, konnte es aber nicht aussprechen. Ich weiß nicht mehr, was. Ich konnte es nicht. Ich musste sie stützen. Ihre Beine trugen sie ja nicht. Ich hielt sie von hinten fest, während ihr die Schlinge um den Hals gezogen wurde. Es war, als wäre sie bereits tot, aber ich spürte, wie sie zitterte. Ich hielt sie fest, roch ihren warmen Altweibergeruch, dann ließ ich sie los.
    Ich weiß noch, wie froh ich war, dass Tora nicht dabei war, dass sie so etwas nie würde miterleben müssen.
    Als es getan war, befreiten wir die Tote von der Schlinge. Wir legten sie in einen Sack. Vom Vortag waren bereits zweiLeichen in Säcken dort. Sie sollten am nächsten Morgen bestattet werden. Ich weiß nicht, wo sie begraben wurde.
    Wieder zurück in meinem Büro, stellte ich mich im Mondlicht ans Fenster. Ich war nackt. Mit einem feuchten Tuch wischte ich mich ab. Langsam wischte ich das Blut und das Erbrochene fort. Eine ganze Stunde stand ich da und säuberte mich.
    Ich trete einen Schritt zurück und blicke zum ersten Mal, seit ich den Hof betreten habe, zu den Fenstern hoch. Dahinter sehe ich, auch wenn ich mir nicht sicher bin, einen Schatten, eine Gestalt, die sich rasch in die Dunkelheit und außer Sicht zurückzieht. Ich schaue noch einige Zeit hinauf, sehe aber nichts mehr.
    Ich drehe mich nach Andalus um. Er steht mitten auf dem Hof. Seine Haltung spiegelt die des Mädchens, Hände an der Seite, gesenkter Kopf, rote Jacke.
    Ich setze meinen Rundgang um die Türen fort. Alle sehen älter aus. Wenn die Farbe nicht abblättert, ist das Schild nachgedunkelt, aber die Siedlungsverwaltung scheint immer noch hier beherbergt zu sein. Warum hätte man sonst die Namen stehen lassen?
    Nach zwei Dritteln der Runde komme ich zum Eingang meiner Dienststelle. Wahrscheinlich habe ich bewusst am anderen Ende angefangen, ganz bewusst nicht mit dieser Tür. Ich frage mich, wer Herein sagen wird und wer jetzt Marschall ist. Immer noch Abel, oder jemand Neues? Allerdings sind erst zehn Jahre vergangen, und damals war er ein junger Mann mit asketischen Gewohnheiten. Wenn er also nicht gestorben ist, wird er wohl noch im Amt sein. Ich frage mich, wie er reagieren wird.
    Auch wenn es verwundern mag, war und bin ich ihm nicht böse, dass er mir in den Rücken gefallen ist. Wir waren beide Politiker, und er hat den Stimmungsumschwung schneller erfasst. Er trat dafür ein, ich stemmte mich dagegen. Seine Argumente kamen an. Er hatte es zweifellos leichter, aber ich wusste, was ich wollte. Ich war von meiner Sache überzeugt und respektierte auch seine Ansichten. Vielleicht fiel es ihm deshalb schwer, mir beim Abschied die Hand zu geben. Weil vielleicht nichts stärker ist als ein Mensch, der sich mit Würde geschlagen gibt. Nur ist solche Stärke nicht

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