Die Wand der Zeit
von dieser Welt.
Wir gaben uns dort am grauen Strand die Hand, und seine Hand war feucht, und er sah mir nicht in die Augen. Neben ihm stand Tora. Der Seewind zauste ihr Haar.
Zugegeben, manchmal wusste ich nicht recht, was ich von Abel halten sollte. Ein schwer einzuschätzender Stellvertreter. Manchmal, wenn ich dachte, er sei verstimmt, wollte er wahrscheinlich nur seine Arbeit tun. Was wäre wohl passiert, wenn ich jemand anderen zu meinem Nachfolger ernannt hätte? Das habe ich mich schon oft gefragt.
Zumindest diese Tür ist gepflegt. Glänzend weiß, und das Messingschild daran ist frisch poliert worden. »Marschall« steht darauf.
Ich hebe die Hand, um zu klopfen, aber die Tür öffnet sich schon, als hätte jemand auf mich gewartet. Der Mann, der vor mir steht, trägt die gleiche Uniform wie ich früher, mit an die Brust gehefteten Orden. Er ist ungefähr in meinem Alter und grauhaarig. Er sieht mich an. Es ist nicht Abel. Ich weiß nicht, ob ich enttäuscht sein soll oder nicht.
Dennoch kommt er mir bekannt vor. Vielleicht liegt es nur an der Uniform, aber mir ist, als hätte er im Krieg zu meinen Generälen gehört. Genau unterbringen kann ich ihn allerdingsnicht. Er steht nur schweigend da und sieht mich mit ausdrucksloser Miene unverwandt an.
»Guten Morgen«, sage ich.
Der Mann neigt, wenn auch nicht sofort, zur Begrüßung den Kopf.
Ich habe lange über diesen Augenblick nachgedacht, vielleicht länger, als mir bewusst ist. Ich habe ihn geplant, mir überlegt, was ich sage, doch dabei hatte ich zu Abel gesprochen, nicht zu dem Mann vor mir.
»Ich suche den Marschall«, sage ich. »Sind Sie das?«
Der Mann nickt. »Ich bin Marschall Jura.« Ich bin enttäuscht, aber auch noch etwas anderes, auf das ich nicht den Finger legen kann.
»Meine Name ist –«, setze ich an, unterbreche mich aber. »Ich bringe Ihnen diesen Mann. Er sei Ihrer Aufmerksamkeit empfohlen.«
Der Blick des Marschalls folgt meiner Handbewegung. »So?«, fragt er. Er ist nicht unhöflich, möchte aber offensichtlich, dass ich zur Sache komme, und erkennt offensichtlich weder mich noch Andalus.
»Seine Name ist General Andalus«, sage ich. Ich bin gespannt auf seine Reaktion. Es kommt keine. Nicht mal ein Blinzeln.
»Er war – und ist vielleicht immer noch – General von Axum. Ich habe ihn innerhalb unserer Grenzen entdeckt. Ich habe versucht, ihn zu befragen, um zu erfahren, was er vorhat, doch er äußert sich nicht. Ich glaube zwar nicht, dass er feindselige Absichten hat, aber er ist dennoch Ausländer und verstößt gegen das Friedensabkommen. Nicht nur das, sondern da es sich um Andalus persönlich handelt, ist sein Aufenthalt außerhalb von Axum und in Bran ein beunruhigendes Signal.«
Ich warte darauf, dass der Marschall etwas sagt. Doch er schweigt. Sein Gesicht zeigt keine Regung. Er sieht mich nur unverwandt an. Einen Moment lang frage ich mich, ob er es darauf anlegt, ein möglichst ausdrucksloses Gesicht zu machen.
»Er ist ein Signal, für das wir eine Erklärung brauchen. Sein Auftauchen bereitet mir große Sorge. Wenn es zu einer Rebellion gekommen ist, sollten wir darüber im Bilde sein. Wenn es einen friedlichen Regierungswechsel wie bei uns gegeben hat«, ich mache eine Kunstpause, doch er gibt nicht zu erkennen, dass ihm meine Ironie aufgefallen wäre, »dann sollten wir das ebenfalls wissen. Ich habe ihn hierhergebracht, wie es meine Pflicht als treuer Bürger von Bran verlangt.«
»Andalus.« Das ist keine Frage, nur eine Wiederholung des Namens.
»Ja, Andalus.« Ich erwidere seinen Blick. Wir schweigen uns an, bis der Marschall zuerst wieder spricht.
»Sie haben ihn hergebracht?«
Ich deute hinter mich, ohne mich umzudrehen, und nicke. »Ja.«
Er blickt mir ziemlich lange über die Schulter, sieht dann wieder mich an und sagt:
»Ich sehe niemanden.«
Diesmal drehe ich mich um und zeige auf Andalus, der zum Ausgang auf den Hof gegangen ist. »Da«, sage ich gereizt. »Der Mann, der uns den Rücken zukehrt.«
Der Marschall blickt zum Ausgang, dann sieht er mich an. Er schweigt eine Weile. Schließlich sagt er: »Sie müssen nach Hause gehen, alter Mann. Es gibt Regen.«
Damit tritt er einen Schritt zurück und schickt sich an, die Tür zu schließen. Ich bin zwar überrumpelt, mache aber einen Schritt nach vorn, ehe er sie ganz schließen kann. Ich lege dieHand an die Tür und setze meinen Fuß über die Schwelle. Ich bin größer als er. Langsam und ruhig sage ich: »Sie wissen, wer ich
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