Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wand der Zeit

Die Wand der Zeit

Titel: Die Wand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Bruce
Vom Netzwerk:
was diese Stadt brauchte.
    Aber die Menschen ändern sich. Anzeichen davon habe ich bereits gesehen. Vielleicht hatten sie durch die geringer werdenden Belastungen mehr Zeit zu grübeln, unzufrieden zu sein, mehr Zeit zum Umdenken. Abel hat aber bestimmt nicht kampflos seinen Platz geräumt.
    Ich erinnere mich deutlich an sein Haus, die Wände aus dem gleichen grau gebleichten Holz wie die anderen Gebäude, hier und da mit Lehm verstärkt. Auf meinem täglichen Rundgang durch die Stadt bin ich oft daran vorbeigekommen. Ich lief immer vom Rathaus zum Stadttor und gegen den Uhrzeigersinn zurück. Anderthalb Stunden brauchte ich für die fünf Meilen. Meine Insel war größer. Sein Haus kam nach drei Vierteln der Strecke, ein Stück weg von der Stadtmauer, zu erreichen über einen schmalen Durchgang. Im Vorbeigehen schaute ich manchmal auf das eine Fenster, das von der Straße aus zu sehen war.
    Hin und wieder sah ich Abel am Fenster stehen, oder ich sah, wie er gerade kam oder ging. Dann winkte ich ihm. Nur selten blieb ich stehen. Wir verbrachten den ganzen Tag zusammen und brauchten uns nicht noch nebenher zu unterhalten. Gegen Ende sah ich einmal auch andere Beamte bei ihm. Es war schon spät. Ich hielt mich im Mauerschatten und glaube nicht, dass sie mich gesehen haben. Als seine Gäste fort waren, stand er noch von Licht umrahmt im Eingang. Ich verlagerte mein Gewicht, und meine Füße knirschten auf dem Kies. »Wer ist da?«,rief er. Ich antwortete nicht. Obwohl er in meine Richtung schaute, weiß ich, dass er mich nicht gesehen hat. Sonst hätte er gegrüßt. Ich kannte sie alle – schließlich hatte ich sie selbst berufen –, warum habe ich mich also nicht bemerkbar gemacht? Weil ich Bescheid wusste, auch wenn ich es mir damals noch nicht eingestand. Argwohn wächst von innen her. An jenem Abend fing alles an, Monate bevor etwas geschah, Monate vor meiner Festnahme.
    Ich glaube, ich wollte ihm ein wenig Angst machen, auch wenn mir natürlich nicht bewusst war, wieso. Er sollte Angst vor der Dunkelheit haben, vor dem, was dort sein könnte. Aber nur Menschen mit Fantasie können Angst haben, und ich hatte schon immer den Eindruck, dass es ihm daran fehlte. Ich war derjenige, der sich ein besseres Leben ausdachte. Er führte Befehle aus. Fantasievoll würde ich sein Komplott nicht nennen. Zweckmäßig ja, fantasievoll nein.
    Während ich an der Stadtmauer entlanggehe, werfe ich gelegentlich einen Blick über die Schulter, ob mich jemand beobachtet, und fahre mit den Fingern über das Mauerholz. Das habe ich auch früher schon gemacht. Es war ein gutes Gefühl, die handfeste Bestätigung, dass das, was innerhalb dieser Mauer lag, von mir abhing. Mir gefiel auch, dass jedes Mal, wenn meine Finger über die Mauer strichen, Holzteilchen, Splitter zu Boden fielen. Jedes Mal wurde die Mauer ein wenig zerstört. Das ist die Instinkthandlung eines, der Höhenangst hat: ohne es zu wollen, fühlt man sich vom Abgrund angezogen, verspürt man den Drang zu springen.
    Nie habe ich Tora aus diesem Haus kommen sehen.
    Noch ehe ich recht weiß, dass ich da bin, stehe ich vor dem Durchgang. Ich schaue auf das Fenster, in dem aber ein Rolloruntergezogen ist, sodass ich nichts sehen kann. Ich gehe zu dem Haus und klopfe dreimal laut an die Tür. Niemand kommt. Die Tür klappert in der Angel. Sie wäre leicht einzutreten.
    Ich bücke mich, um durch den Spalt unter der Tür zu schauen. Ich probiere es auch mit dem Schlüsselloch, das aber versperrt ist, ich sehe nur einen schwachen Lichtschein. Vielleicht steckt ein Schlüssel von innen. Ich stelle mich hin und warte. Fünf Minuten vielleicht. Ich lege das Ohr an die Tür und klopfe noch einmal leiser.
    Ich merke, dass oben am Durchgang jemand steht. Er ist alt. Er hält die Arme neben dem Körper, er sieht mich unverwandt mit offenem Mund an. Ich richte mich auf. Ich mache einen Schritt auf ihn zu. Auch mein Mund steht offen. Ich mache noch einen Schritt, und er dreht sich auf dem Absatz um und nimmt Reißaus. Ich beobachte ihn oben vom Durchgang aus. Er läuft wie ein alter Mann. Ich hole tief Luft, grinse und setze ihm nach. Ich ermahne mich, ihm nicht wehzutun, wenn ich ihn einhole.
    Er ist zwar alt, aber nicht so langsam, wie ich dachte. Jedes Mal, wenn ich meine, ihn zu haben, verschwindet er um die nächste Ecke. Ins nächste Haus und wieder raus. Ich rufe ihm nicht hinterher. Er weiß, dass ich ihn kenne.
    Ich kämpfe gegen den in mir aufsteigenden Zorn an.
    Ich schieße um

Weitere Kostenlose Bücher