Die Wand der Zeit
die Ecke und stoße frontal mit einem Mann zusammen. Es wirft mich um. Er hat den ausgestreckten Arm vor sich gehalten. Er schweigt, der Mann. Ich kann nichts sehen. Ich bin benommen, aber ich spüre, dass er sich ansieht, wie ich da am Boden liege. Dann geht er davon. Ich rappele mich langsam hoch, erst auf die Knie, dann auf die Füße. »Sie da!«, rufe ich ihm nach. Er tut, als ob er es nicht hört. Ich lehne mich gegen die Mauer und verschnaufe.
Der andere, der Alte, ist mir entwischt, der Richter, der mich auf Abels Befehl aus der Siedlung Bran verbannt hat.
Ich kehre zu Abels Haus zurück. Ich staune noch über meine Gefühle beim Anblick des Richters. Bislang hatte ich ihm keinen Vorwurf daraus gemacht, dass er mich fortgeschickt hat, aber ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich ihn eingeholt hätte.
Trotzdem bin ich zufrieden. Ich habe jemanden von früher gesehen, einen mir namentlich Bekannten, an den ich mich nicht bloß dunkel erinnere. Er ist hier. Und ich bin sicher, er hat mich erkannt. Fürs Erste genügt das.
Leicht hinkend gehe ich ein paar Meter und setze mich auf eine Bank im Schatten der Stadtmauer bei Abels Haus. Ich warte darauf, dass er nach Hause kommt oder das Haus verlässt.
Aber es tut sich nichts. Rein gar nichts. Auf der Straße ist es still. Wenn Leute vorbeigehen, sehen sie mich nur kurz an und schauen gleich wieder weg. Das geht schnell, aber ich bilde es mir nicht nur ein. Manchmal scheinen sie mich gar nicht wahrzunehmen. Ein paar Kinder spielen Fangen. Die meiste Zeit ist niemand auf der Straße. Vor allem aber rührt sich im Haus nichts, soweit ich es mitbekomme. Der Vorhang bewegt sich nicht, die Tür geht nicht auf. Ich sitze im Schatten, den Kopf an die Mauer gelehnt. Eine Fliege setzt sich auf meine Stirn, und ich wische sie weg. Ich spüre die Sonne im Gesicht, auf der Haut, und die Augen fallen mir zu.
Abel. Das ist ein verbreiteter Name in Bran. Die Herkunft ist unklar, aber man erzählt sich von zwei Brüdern am Anbeginn der Zeit. Abel wird von seinem Bruder ermordet. Er ist das erste Opfer des Bösen. Wie man seinen Kindern den Namenvon Opfern geben kann, habe ich nie verstanden. Die Geschichte handelt von einem Mann, der seinen Bruder auf einen Acker führt. Der Mann ist eifersüchtig auf seinen jüngeren Bruder. Auf was genau, weiß er nicht. Darauf, dass der Bruder jünger ist. Er wartet, bis er ihm den Rücken zukehrt, und ergreift einen Stein. Während er damit immer wieder zuschlägt, fliegt erschrocken ein Schwarm Krähen von dem Acker auf. Es sind Hunderte. Sie geben keinen Laut von sich. Oder aber er hört sie nicht. Sie verdunkeln den Himmel. Die rote Erde erstreckt sich von Horizont zu Horizont.
Abel war kein Opfer.
Der Richter sitzt auf einem erhöhten Podium. Hinter ihm ist die Wand, auf der unter der Überschrift »Marschälle von Bran« mein Name mit dem dazugehörigen Datum steht, »Bran, BI «. Der Richter spricht: »Marschall Bran, Sie werden hiermit für alle Zeit verbannt. Sie werden ein Boot und Proviant erhalten und damit ostwärts in See stechen. Finden Sie vor den Territorien von Axum Land, haben Sie dort zu bleiben. Finden Sie keines, müssen Sie Ihr Glück in Axum versuchen. Unter keinen Umständen dürfen Sie nach Bran zurückkehren. Sonst werden Sie hingerichtet. Das Volksgericht hat beschlossen, Ihnen das Schicksal zu ersparen, das Sie anderen so überaus bereitwillig zugeteilt haben. Sie lassen nicht erkennen, dass Sie Ihre Handlungsweise bereuen, obwohl Sie mit Ihrer Politik offensichtlich allein dastehen. Die Stadt wird Ihnen niemals verzeihen, denn wir löschen Sie hiermit aus unserem Gedächtnis.« Er verschränkt die Hände vor sich, beugt sich ein wenig nach vorn. »Sie waren einmal ein Krieger, ein Mann mit Weitblick. Jetzt …«, er schweigt, lehnt sich zurück, »jetzt bleiben Sie uns fern!« Damit winkt er den Soldaten, die kommen und michohne Gewalt bei den Armen fassen, um mich wieder in die Zelle zu führen. Im Saal ist es still. Ich blicke mich um. Abel steht im Publikum. Er gibt den Leuten um ihn herum die Hand. Mir sieht er nicht in die Augen. Tora ist nicht da. Ich sehe sie erst an dem Tag wieder, der für zehn Jahre mein letzter in der Stadt sein wird.
Eine Hand auf meiner Schulter weckt mich. Noch halb im Schlaf blicke ich auf. Die Sonne ist hinter ihrem Gesicht. Die Haare glänzen golden. Zuerst denke ich, es ist meine Geliebte. Ich setze mich jäh auf. Sie ist es nicht. Es ist Elba.
»Guten Morgen«,
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