Die Wand der Zeit
wussten Sie denn, dass es meine waren?«
Der Marschall zuckt die Achseln. »Wessen sonst?«
»Die Tür stand offen.«
Er schweigt.
»Ich bin auch im Saal gewesen. Ich habe gesehen, was Sie getan haben.«
»Was denn?«
»Sie haben meinen Namen von der Namenstafel gelöscht.«
»Gelöscht, sagen Sie?«
»Gelöscht. Zum Scherz vielleicht. Oder aus einer verqueren Vorstellung vom Allgemeinwohl heraus.«
»Würden Sie mir das erklären?«
»Irgendjemand, Sie, der echte Marschall, irgendwer, dem nicht gefiel, was wir getan haben, hat die Spuren der Person getilgt, die am direktesten mit dem Irrweg in Verbindung gebracht wurde. Irrweg aus seiner Sicht.«
»Um welchen Irrweg handelt es sich?«
Ich zögere, frage mich, ob er sich bewusst dumm stellt oder durchblicken lässt, dass er die Verdienste unseres Vorgehens anerkennt. »Der Irrweg, wie es manche nennen, bestand darin, die Schwachen zu beseitigen, eine Politik zu verfolgen, die einige Leben kostete und doch so viele rettete. Die Politik, die unsere durch eine Ursünde zerbrochene Welt heilen sollte. Die Politik, die manche als Selektion bezeichnet haben.«
Der Marschall starrt mich ein paar Augenblicke an. »Weshalb waren Sie hier?«
»Weshalb ich hier war? Ich kam zufällig vorbei. Die Tür stand offen. Ich war neugierig. Ich wollte meine alten Räumlichkeiten noch einmal sehen. Ich wollte meinen Namen auf der Tafel sehen.«
»Und Sie waren enttäuscht, dass er da nicht stand?«
»Natürlich. Geschichte radiert man nicht aus, bloß weil sie einem nicht genehm ist, weil man sie gern anders hätte, und genau das ist hier offensichtlich passiert.«
»Indem man Namen von einer Wand entfernt hat?«
»Symbolisch. Die Namensentfernung steht für etwas Größeres, etwas Düstereres.«
»Sie meinen, wir sollten uns weiterhin die Geschichten erzählen, die uns Angst machen?«
Mir scheint, ich bin drauf und dran, dem Marschall ein Geständnis zu entlocken.
»Weshalb sollten Sie davor Angst haben? Die Vergangenheit besitzt nur so viel Macht über Sie, wie Sie zulassen. Strafen Sie, wenn Sie möchten. Kreuzigen Sie, wenn es sein muss. Verbrennen Sie die Schuldigen und streuen Sie ihre Asche in den Wind, schwärzen Sie ihre Namen und vertreiben Sie ihre Familien. Fegen Sie nichts unter den Teppich. Rächen Sie Verfehlungenund lassen Sie’s gut sein. Auch die Schuldigen verdienen in Erinnerung zu bleiben, haben Anspruch auf ihr Schuldigsein.« Bin ich zu weit gegangen?
Der Marschall lässt keine Gefühlsregung erkennen. Nach einer Weile blickt er auf den Tisch und sagt: »Gehen wir doch mal in den Saal. Schauen wir, ob das, was Sie sagen, Hand und Fuß hat.« Es reizt mich, ihm zu antworten, dass meine Worte auf jeden Fall Hand und Fuß haben, egal was an der Wand steht, aber ich halte den Mund.
Wir schweigen, bis wir den großen Saal erreichen. Ich will gerade auf die Inschrift zeigen, da sagt der Marschall: »Madara, Abel. Noch keine lange Reihe, aber doch eine vielversprechende.«
Ich bin gelinde gesagt überrascht. »Der erste Name stimmt nicht. Und Abel steht zwar da, aber nicht, bis wann er regiert hat. Wo ist der Mann, was ist aus ihm geworden? Und wieso steht Ihr Name nicht da? Sind Sie nicht stolz darauf, Marschall zu sein?«
»Ich habe Wichtigeres zu tun, als meinen Namen an eine Wand zu schreiben«, fährt er mich an. »Das passiert noch früh genug.«
»Madara ist trotzdem falsch.«
»Was sollte denn da stehen?«
»Ich glaube, Sie kennen die Antwort, aber ich erkläre es Ihnen gern noch mal«, sage ich. »Der erste Marschall von Bran war Bran. Ich, der Mann, der nach der Siedlung hieß. Der zweite Marschall war Abel, mein Stellvertreter. Er stieg zum Marschall auf, als ich verbannt wurde. Es kann zwar sein, dass Sie der dritte Marschall sind, aber genau weiß ich das nicht.«
»Sie wissen es nicht.«
»Ich weiß nicht, ob Sie der dritte, der vierte oder der fünftesind. Sie wissen doch genau, was ich meine. Bei drei Marschällen sollten die Namen auf der Liste Bran, Abel und Jura lauten. Das ist der Fehler – die falschen Namen, die falsche Anzahl.«
Der Marschall tritt vor die Wand und berührt sie fast mit der Nase, während er sich die Namen ansieht. Er fasst hin und fährt mit den Fingerspitzen über die goldene Schrift. »Sie haben gefragt, ob ich nicht stolz bin. Ich bin sehr stolz darauf, Marschall von Bran zu sein und solchen Männern nachzufolgen. Erst Madara, dann Abel, ein noch Größerer als sein Vorgänger.« Er schweigt.
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