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Die Wand der Zeit

Die Wand der Zeit

Titel: Die Wand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Bruce
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»Dieses Holz müsste man sehr vorsichtig schmirgeln, damit Änderungen im Schriftbild nicht auffallen. Ausgesprochen vorsichtig. Es ist so weich und hat eine so feine Maserung, dass nur ein Meister seines Fachs die Farbe entfernen und neu auftragen könnte, ohne Spuren seines Eingriffs zu hinterlassen. Kommen Sie, schauen Sie.«
    Ich trete näher heran.
    »Sehen Sie irgendwelche Kratzer?« Er zeigt auf den Namen Madara. »Ist da irgendwas anders am Holz?«
    Ich muss verneinen.
    »Aha«, sagt er mit kaum verhohlenem Triumph. »Dann müssen Sie ja wohl zugeben, dass Sie sich irren.«
    »Sie haben doch selbst gesagt, dass ein Meister seines Fachs es hinbekommen hätte.«
    »Da haben Sie mich missverstanden. Macht aber nichts.« Er wendet sich von mir ab, den Rücken zur Wand. »Sie sagen, Sie wissen viel über Geschichte, aber ich bin mir nicht sicher, ob Sie daraus auch etwas gelernt haben. Dennoch war es mir ein Vergnügen, mich mit Ihnen zu unterhalten. Ich tausche gern Gedanken aus. Wenn Sie noch mal wiederkommen, können wir unser Gespräch ja fortsetzen. Natürlich sollten Sie Ihren Besuch dann ankündigen und nicht umherschleichen wie einDieb.« Ich weiß nicht, ob er das ernst meint. »Aber jetzt müssen Sie gehen.« Er marschiert davon.
    Am Saaleingang dreht er sich um, sieht mir in die Augen und sagt: »Madara war unser erster Regent. In mancher Hinsicht wirklich ein großer Mann. Er hat unsere Verfassung geschrieben. Er hat uns alle vor dem Hungertod bewahrt. Aber er war brutal, zu brutal. Vielleicht ein Mensch seiner Zeit. Dann ging diese Zeit zu Ende, und er konnte kein Mensch seiner Zeit mehr sein. Er musste gehen. Es musste Schluss sein mit ihm. Das ist seine Geschichte. Abel übernahm das Szepter. Er bewies wahren Weitblick, seine politische Einsicht hat uns geheilt, uns Stabilität und Zielbewusstsein geschenkt, eine Identität, die wir mehr und mehr schätzen.«
    Ich bin zu entgeistert, um darauf zu antworten. Ich kann nur hinter dem Marschall herschauen. Doch dann rufe ich: »Sie können mich nicht ewig verleugnen, Jura. Letztendlich müssen Sie doch mit mir rechnen.«
    Noch einmal fahre ich mit der Handfläche über das Holz. Ich gehe aus dem Saal, aus dem Gebäude, dem Hof. Im Gehen schaue ich zu dem Fenster hinauf. Vielleicht ein Schatten, eine Hand, ein blasses Gesicht. Vielleicht auch nichts.
    Ich bin unverrichteter Dinge gegangen, aber ich werde wiederkommen. Wenn mir der Marschall meine Fragen nicht beantwortet, finde ich die Antworten selbst heraus. Ich werde feststellen, was hier vorgeht. Ich werde Abel und Tora finden.
    Schnell gehe ich noch einmal zu Abels Haus. Ich klopfe laut an die Tür, lege mein Ohr ans Holz und horche konzentriert. Nichts. Ich klopfe und horche noch einmal.
    Nach ein paar Augenblicken gehe ich leise von der Tür zum Fenster. Durchsehen kann ich nicht. Die Sonne scheint hell auf die Scheibe und blendet mich. Ich drücke mein Gesicht gegendas Glas. Zuerst kann ich nichts erkennen. Nach und nach werden Dinge sichtbar: der Steinfußboden, ein Stuhl, ein Tisch, eine Truhe an der Wand. Auf der Truhe ein Krug und eine Schüssel. Auf der anderen Seite des Zimmers ein Gang ins Hausinnere. Der Stuhl ist umgekippt. Die Tür muss irgendwo links sein, aber sehen kann ich sie nicht, da ein Wandvorsprung mir die Sicht versperrt. Ich stelle mir vor, dass da jemand steht und darauf wartet, dass ich gehe. Ich drücke mich noch dichter an die Scheibe und lege die Hände rechts und links ans Gesicht, um den Sonnenglast auszublenden. Der Boden ist mit einer grauen Staubschicht überzogen. Sie ist dünn, nur ein paar Tage alt.
    Mittlerweile ist es offensichtlich, dass die Antworten auf meine Fragen schwer zu bekommen sind. Auf der Straße sieht mich kaum jemand an. Einer, der Richter, ist vor mir weggelaufen. Die zwei-, dreihundert Leute, deren Namen ich kenne, sind verschwunden. Ein Marschall, der eindeutig keine Führungspersönlichkeit ist. Eine Frau, die vorgibt, weder mich noch ihre Vorgängerin zu kennen, vielleicht widerwillig so tut, weil sie muss, weil sie Verpflichtungen hat. Ich weiß es nicht.
    Offenbar wollen sie vergessen. Das wäre tragisch. Nur die Schwachen vergessen ihre Vergangenheit. Wenn man einen Menschen tötet, der nicht weiß, woher er kommt, der keine Bindung an seine Gemeinschaft hat, kann man dann überhaupt sagen, man hat einen Menschen getötet? Was ist denn ein Mensch, wenn nicht seine Vergangenheit und seine Gefährten? Es wäre kein Verlust zu spüren. Das

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