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Die Wand der Zeit

Die Wand der Zeit

Titel: Die Wand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Bruce
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gilt auch für Völker. Nur ein schwaches Volk vergisst seine Vergangenheit, ein Land, das man ausradieren und neu anfangen lassen kann, ohne dass es jemand merkt. Statt Geschichte bloß ein Schweigen, das niemandhört. Ein armseliges Volk, und wenn es diesen Weg beschreitet, hat es verdient, was es bekommt.
    Meinem Volk hat der Krieg eine Geschichte beschert. Es wurde ausgedünnt, um in einer unwirtlichen Welt besser bestehen zu können. Das ist die Geschichte dieses Volkes. Der Mann, der davongelaufen ist, der, der mich umgerannt hat, die Leute in der Küche, die mich ignoriert haben, der Marschall, Elba, sie sollten nicht vergessen, wo sie herkommen. In Zeiten des Hungers und der Not geboren, sind sie die Überlebenden, diejenigen, die die Bürde der Zukunft zu tragen hatten, einer Zukunft, der die Schwachen im Weg standen. Fühlen sie sich schuldig? Nicht in diesem Sinn. Die Schuldfrage stellt sich nicht in diesem Land, Schuld hat es seit Beginn der Kämpfe nicht gegeben, nicht seit wir angefangen haben, im panischen Überlebenskampf einander die Kehlen durchzuschneiden. Diese Menschen haben nicht die nötige Fantasie, um sich schuldig zu fühlen. Sie haben nicht das Recht dazu.
    Muss man einfach ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen, sie zwingen, sich zu erinnern? So viele Beweise zusammenbringen, dass sie mich nicht mehr verleugnen können, sich endlich ein Herz fassen und der Vergangenheit – und mir – ins Auge sehen?
    Eine Verpflichtung sollten sie fühlen. Keine Schuld, sondern eine Verpflichtung. Als letzte Vertreter eines einst dominierenden Geschlechts sind sie verpflichtet, die Erinnerung an das Vorausgegangene zu bewahren. Wir haben ja sonst nichts.
    Es enttäuscht mich, was aus ihnen geworden ist. Geister. Schatten. Habe ich sie dazu gemacht? Habe ich ihnen solche Angst eingejagt, dass sie sich wie Kinder in den Ecken herumdrücken? Nein. Auch ich bin aus einer zerstörten Welt hervorgegangen. Aber ich habe ihnen gezeigt, wie man diese Trümmerweltganz machen, die blutigen Fetzen wieder zusammenbringen kann.
    Von Weitem sehe ich sie kommen, die eine viel größer als die andere. Elba und Amhara. Sie haben mich auch schon gesehen. Ich warte auf sie. Amhara trägt eine rote Jacke. Wieder muss ich an meine erste Begegnung mit ihr denken. Mir ist genauso zumute wie damals.
    »Guten Morgen«, sagt Elba.
    »Hallo, Elba. Hallo, Amhara.« Das Mädchen sieht zu Boden.
    »Es tut mir leid, dass ich gestern Abend so schroff war«, fährt Elba fort.
    Ich schüttle den Kopf.
    »Möchten Sie’s noch mal versuchen?«, fragt sie.
    »Mit einem Besuch?«
    »Nein. Na ja, doch. Ich würde Sie gern noch mal zum Essen einladen«, sagt sie. »Heute Abend?«
    »Sehr gern«, antworte ich.
    »Gut.« Sie sagt nicht Auf Wiedersehen, sondern dreht sich um und geht mit Amhara davon. Ich schaue ihnen hinterher. An der nächsten Ecke dreht Amhara sich nach mir um. Ich winke ihr. Sie winkt nicht zurück.
    Tagsüber sind meine Möglichkeiten begrenzt, aber wenigstens zweierlei kann ich tun. Ich kann an Haustüren anklopfen, bis ich jemanden finde, den ich erkenne oder der bereit ist, mit mir zu sprechen. Und ich kann noch einmal zu dem Orangenhain gehen und zu der Lichtung in der Mitte, dem Platz, wo wir die Schwachen gehängt haben.
    Natürlich besteht die Gefahr, dass man die Tore schließt, wenn ich draußen bin, und mich nicht mehr in die Stadt lässt,aber das Risiko muss ich eingehen. Ich möchte Beweise für meine Arbeit finden. In einer Hütte am Richtplatz wurden Dokumente aufbewahrt, und wenn sie noch dort sind, könnten sie mir weiterhelfen.
    Auf dem Weg zum Stadttor sehe ich von Weitem Andalus. Es ärgert mich, dass er umherstreift, aber ich kann ihn bei meiner Suche nach der Wahrheit nicht ständig um mich haben oder im Auge behalten.
    Ich bin Einschränkungen nicht gewöhnt. Auf der Insel habe ich mir alle Grenzen selbst gesetzt.
    Ich rufe ihn, aber er ist zu weit weg. Er ist eine graue Gestalt in der Ferne, ein von der Hitze durchflimmerter Schemen. Ich muss an den ersten Morgen vor dem Stadttor denken. Ich laufe los, um ihn einzuholen. Er biegt um eine Ecke und ist weg. Ich schlage mit der Faust gegen eine Hauswand. Die Haustür öffnet sich. Sie öffnet sich zu mir hin. Ich sehe den Schatten eines Mannes im Türspalt. Warte darauf, dass sich sein Gesicht zeigt. Er kommt nicht heraus. Langsam schließt sich die Tür wieder. Ich stoße einen Schrei aus und stürze auf sie zu, aber es ist zu spät.
    Ich gehe im

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