Die Wand der Zeit
mir etwas ins Auge. Etwas halb unter der Anrichte Verborgenes. Ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Ich falte es auseinander.
Und sie ist es wirklich.
Nicht nur ein Geruch, ein Duft, etwas, das ein Geist hinterlassen könnte. Es ist ihre Handschrift. Die erkenne ich auch nach zehn Jahren noch. Ich lese die wenigen Worte: »Lieber Bran, ich hoffe, Du verstehst mich.« Diese Zeile ist durchgestrichen. Und weiter: »Zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir sein möchten, besteht eine Kluft.«
Ich drehe den Zettel um. Nichts mehr. Das ist alles.
Ich lese ihn noch einmal. Und noch einmal. Jedes Mal ergeben die Wörter die gleichen Sätze. Jedes Mal enden sie zu schnell.
Ich verlasse das Haus, trete hinaus an die frühe Morgensonne und ziehe die Tür hinter mir zu. Sie abzusperren versuche ich gar nicht erst.
10
Ich gehe zum Büro des Marschalls hinüber. Beim Verlassen des Unterstands sehe ich einen Mann eingangs der Gasse. Bis ich zur Straße komme, ist er weg. Ich werde überwacht.
Ohne anzuklopfen drücke ich die Klinke herunter. Die Tür ist offen. Ich gehe die Treppe hinauf zum Büro des Marschalls.
Er sitzt an seinem Schreibtisch. Als ich eintrete, blickt er auf. Er scheint nicht überrascht, mich zu sehen.
Ich setze mich auf den Stuhl ihm gegenüber. Und merke, dass noch jemand anders im Raum ist. Er sitzt rechts hinter mir in der Ecke. Ich drehe mich nach ihm um. Obwohl ich ihn nur flüchtig zu sehen bekam, glaube ich, es ist der Mann, mit dem ich zusammengestoßen bin, als ich hinter dem Richter her war. Er sieht mir nicht in die Augen.
»Was wollen Sie, Bran?«, eröffnet der Marschall.
»Guten Morgen«, sage ich. Ich warte.
Schließlich erwidert er meinen Gruß.
»Ich will nicht behaupten, dass ich Ihr Verhalten mir gegenüber verstehe, doch anscheinend brauchen Sie etwas Zeit, sich auf mich einzustellen, sich zu besinnen. Ich bin ein geduldiger Mensch, aber ich möchte ein paar Auskünfte von Ihnen. Auch wenn Sie vielleicht der Meinung sind, ich hätte hier keine Rechte mehr – ich glaube, ich habe noch welche. Ich habe das Recht, mir Sorgen zu machen, dass mein Volk die Orientierung verliert.«
Der Marschall lehnt sich zurück, antwortet aber nicht.
»Ich habe drei Fragen an Sie. Erstens wüsste ich gerne, wo Abel, der zweite Marschall von Bran, ist, der nach meinem Fortgang das Amt übernommen hat, und wo Tora ist. Sie war die Frau, die unseren Beköstigungsplan mit ausgearbeitet hat. Möglicherweise findet man die beiden zusammen, falls Ihnen das hilft, aber ich glaube, das wissen Sie. Ich glaube, Sie wissen genau, wo sie sind.«
Noch immer keine Reaktion.
»Zweitens möchte ich wissen, was dieses aufwendige Versteckspiel soll. Warum tun alle so, als ob sie mich nicht kennen? Mich nicht sehen? Warum geben sich alle als jemand anders aus? Sie zum Beispiel. Sie sind kein Marschall. Sie sind keine Führungsperson. Sie spielen den Marschall, aber Sie haben ihn nicht im Blut. In Ihnen steckt kein Marschall.«
Ich halte inne. Nach ein paar Sekunden sagt er: »Sie sprachen von drei Fragen …«
»Ja.« Mein Ton ändert sich. Das fällt mir jetzt nicht leicht. »Ich möchte etwas von Ihnen. Es handelt sich weniger um eine Frage als um eine Bitte.« Ich mache wieder eine Pause.
»Ich habe auf meiner Insel einen Mann entdeckt. Er hätte dort nicht sein dürfen. Dass er dort war bedeutet, dass das Gleichgewicht gestört ist. Dass Sie wieder mit der Vergangenheit rechnen müssen. Seinetwegen bin ich jetzt hier. Seinetwegen stehe ich jetzt vor Ihnen und ersuche Sie, bitte Sie, um Ihretwillen, um der Siedlung willen, mich noch einmal anzuhören, sich noch einmal anzusehen, was ich getan habe. Und mich entweder zu töten oder mich freizulassen.«
»Sie sind frei.«
Ich wende mich von ihm ab und schaue aus dem Fenster. Von hier aus kann ich die Hausdächer sehen, die Wachtürmeam Tor und in der Ferne blau die Berge. Dahinter, jenseits der Ebene, auf der anderen Seite des Meeres, vergeht die Insel im Regen.
»Was wollen Sie von uns, Bran?«
Ich sehe ihn wieder an. Auf die Frage antworte ich nicht. »Ich sammle Beweise«, sage ich. »Beweise dafür, dass ich die Wahrheit sage.«
»Und was sind das für Beweise?«
»Ich habe den Richter gesehen. Den, der mich verurteilt hat. Ihm war anzusehen, dass er mich erkannt hat. Anderen auch. Sie halten meine Freunde und näheren Bekannten gut versteckt, aber ich kenne viele Leute. Früher oder später wollen sie raus. Das ist hier keine Geisterstadt.
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