Die Wand der Zeit
Ich starre ihn an.
»Wer ist da?«
Ich trete auf ihn zu. Schließe ihn in die Arme. »Danke«, sage ich. »Vielen Dank.«
Jetzt sträubt er sich. »Nein.« Seine Stimme ist kaum zu hören.
»Ich bin es – Bran. Sie kennen mich. Wir waren befreundet.«
»Nein.« Er will sich losreißen. Er zappelt wie ein Fisch, bevor ich ihn auf einen Stein schlage.
»Bran.«
»Nein. Die kommen und holen mich. Bitte.«
»Sie kennen mich. Wie können Sie das leugnen? Ich habe Sie zu dem gemacht, was Sie sind«, sage ich leise.
Durch den Brustkorb spüre ich, wie ihm das Herz klopft. Seine Rippen fühlen sich spröde an. Als würden sie brechen, wenn ich fest genug drücke.
Ich lege mein Gesicht an seines. Mein Gesicht ist nass, mein Mund an seinem Nasenrücken, an meinen Zähnen der Geschmack seiner Haut. Ich atme über den blinden Augen.
Ich stoße ihn von mir. Er fällt hin. Er wimmert.
Wieder zurück im Unterstand, sehe ich, dass Andalus verschwunden ist. Das überrascht mich nicht. Vergebens gehe ich die umliegenden Straßen ab. Weiter suche ich nicht. Wahrscheinlich würde er mir ohnehin wenig nützen.
Erst lange nach Sonnenuntergang komme ich auf den Rathaushof. In der Mitte steht der Marschall, merkwürdigerweise in ein langes weißes Gewand gehüllt. »Treten Sie ein«, sagt er. »Die anderen sind schon da. Wir können anfangen.«
Ich folge ihm in den Saal, in dem wir unser Gespräch über die Namen an der Wand geführt haben. An einem Tisch in der Saalmitte sitzt Elba, die mir den Rücken zukehrt. Der Mann, der mich beschattet hat, steht in einer Ecke des Saals. An dem Tisch sind drei freie Stühle. Der Marschall weist mir einen zu und bedeutet mir, Platz zu nehmen.
Dann geht er zu dem Mann hinüber, einem Soldaten vermutlich. »Hallo«, sage ich leise zu Elba. »Bitte verzeihen Sie mein Verhalten neulich abends. Das war unangebracht.«
»Sie sollten sich nicht dafür entschuldigen, dass Sie sind, wer Sie sind«, erwidert sie, ohne mich anzusehen.
Darauf kann ich nicht antworten, da Jura zurückkommt und sich zu uns an den Tisch setzt.
»Wo ist Ihr Freund?«, fragt er.
»Ich konnte ihn nicht finden. Er muss spazieren gegangen sein. Wir hätten aber wohl auch nicht viel von ihm gehabt. Er ist nicht sonderlich gesprächig.«
»Wenn Sie es sagen.« Jura legt die Hände auf den Tisch, fährt aber nicht fort.
»Und?«, sage ich.
Er lächelt mich an. »Wir haben viel zu besprechen.«
»Stimmt. Warum haben Sie mich herbestellt? Sie sagten, Sie seien zu einer Entscheidung gekommen. Zu welcher?«
»Eins nach dem anderen, Bran. Erst müssen wir auf das noch fehlende Mitglied der Runde warten.«
»Und das wäre?« Aber ich wusste es bereits.
»Ein Mann, der sich mit Ihnen unterhalten möchte. Wir haben ihm davon abgeraten. Aber es ist seine Entscheidung. Ihm gehört die Stadt.«
Mir stellen sich die Nackenhaare auf. »So?«
Ich höre Schritte hinter mir. Ich will mich nicht umdrehen.
Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Ich betrachte sie. Sie ist weiß, gepflegt, mit sauberen Nägeln.
»Hallo, Bran.«
Ich antworte mit einem Brummeln. Gern hätte ich anders geklungen. »Abel.«
Er setzt sich mir gegenüber. Wir starren uns an. Der alte Kämpfer und sein Freund, sein Feind. Er hat den Ansatz eines Lächelns im Gesicht. Er ist groß. Seine Knochen sind zu lang für den Stuhl, den Tisch. Ich bemerke die Falten in seinem Gesicht, das Grau im Haar, die blasse Haut.
Über Jahre habe ich den Mann gekannt. Was haben wir nicht alles durchgemacht, nicht alles erlebt. Ihn jetzt zu sehen erschlägt mich.
Im Saal wird es dunkler. Niemand hat eine Kerze angezündet. Elba holt das jetzt nach und setzt sich wieder hin.
Er ergreift das Wort.
»Ich möchte Ihre Geschichte hören, Bran. Ich möchte hören, weshalb Sie hier sind.«
»Hallo, Abel. Freund.« Ich sehe ihm in die Augen. Sie sind heller, als ich sie in Erinnerung habe.
Abel starrt mich an. Er blinzelt nicht. Dann wiederholt er: »Ich möchte Ihre Geschichte hören.«
»Und ich Ihre. Ich habe viele Fragen.«
»Das hat man mir gesagt. Sie haben uns Fabelmärchen mitgebracht, uns als Mörder bezeichnet. Sie behaupten, Sie seien über die Meere zu uns gekommen, als Überlebender, als Wanderer.«
Es überläuft mich kalt. »Wollen Sie mit dem Spiel weitermachen? Auch Sie?«
»Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen.«
»Sie kennen mich.«
Er schweigt erst einmal. Dann: »Was möchten Sie?«
»Ist denn Schluss mit der Spielerei, wenn ich Ihnen das
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