Die Wand der Zeit
nicht aufrechterhalten. Ich finde immer neue Belege für meine Geschichte. Wenn man mich gewähren lässt, werde ich erdrückende Beweise dafür zusammentragen, dass das Ganze hier« – ich schwenke die Arme im Kreis –, »eine kunstvolle Fassade ist.
Es wäre aber viel einfacher, wenn Sie mich dabei unterstützen würden. Reden Sie doch! Kommen Sie mit? Heute Abend wird sich unser Los entscheiden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es noch lange so weitergeht. Die Leute wollen nicht immer im Haus bleiben. Bestimmt kommt bald jemand und zündet den Unterstand an, eine Horde mit Messern Bewaffneter in der Nacht, damit sie uns los sind. Heute Abend werden wir entweder als die anerkannt und behandelt, die wir sind, oder man zwingt uns zu einem Kampf, der nur schwer zu gewinnen wäre. Helfen Sie mir?«
Andalus wippt langsam auf den Füßen. Er hält die Hände vor sich, starrt ausdruckslos auf den Boden und schweigt.
Es wundert mich nicht.
»Auch ich habe nicht das Richtige gesagt, Andalus. Denn es ist schwierig. Ich habe mir nicht das erbeten, was ich wirklich möchte. Auch ich kann nicht sprechen. Wie kommt das?
Heute Abend werde ich es aber tun. Es muss sein. Sie müssen mir helfen.
Sprechen Sie.
Sprechen Sie.
Sprechen Sie.«
Er schweigt. Ich stehe auf, hole tief Luft und gehe zu ihm. Ich packe ihn an der Jacke, die er immer noch trägt, und ziehe ihn zu mir hoch. Seine Augenlider klappen auf. Leise sage ich: »Sie bleiben hier keine Woche mehr am Leben. Die kommen Sie holen. Ich kenne die Leute, ich weiß, wozu sie fähig sind. Die zerren Sie hier aus Ihrem Loch, schneiden Ihnen die Kehle durch und verscharren Sie auf der anderen Seite der Stadtmauer. Die Schwächsten sind die Gefährlichsten. Ich bin Ihre einzige Hoffnung.« Ich lasse ihn los und drücke ihn dabei wieder runter.
Er bewegt die Lippen. Ich beuge mich zu ihm vor. »Was? Was wollen Sie sagen?«
Nichts.
Ich gebe ihm einen Tritt vors Schienbein.
Und spüre seinen Blick auf mir, als ich gehe.
Schnell marschiere ich auf den Mann eingangs der Gasse zu. Im letzten Moment tritt er zur Seite.
Wie aufgedreht komme ich in der Gemeindeküche an. Von Elba keine Spur. Ich frage nicht nach ihr. Niemand ist zum Essen da.
Als ich fertig bin, gehe ich zu ihrer Wohnung. Es ist niemand zu Hause. Ich probiere die Klinke. Abgeschlossen. Ich denke daran, das Spielzeug dazulassen, aber ich weiß nicht, ob Amhara es dann bekommt. Ich möchte es ihr selbst geben. Also gehe ich die Treppe wieder hinunter, vorbei an den krautsprießenden Mauerritzen, dem splittrigen Geländer, und mir dringt etwas ans Ohr, das mich stehen bleiben lässt. Ich höre Tora. Mitten im Schritt halte ich inne, wende den Kopf und horcheauf das Geräusch. Schaue, wo es hergekommen ist. Aber ich weiß – wusste von Anfang an –, dass es nicht Tora ist. Es ist ihre aus der Erinnerung heraufgeholte Stimme. Ihr Lächeln, wie sie an der Tür steht und auf mich wartet. Lächelnd wartet. Weil sie mich sehen möchte. Ein Augenblick vor zwanzig Jahren, als ich sie glücklich machte. Und es packt mich. Ich sehe sie wirklich. Sie steht da, und nur zwei Jahrzehnte trennen uns. Das sagt sich leicht. Aber es ist schwer zu ertragen.
Ich sehe eine Gestalt an der Straßenecke, einen Mann. Ich gehe auf ihn zu, und er verschwindet.
Ich kehre zu den Häusern zurück. Außer der Suche nach weiteren Beweisen gibt es für mich nichts mehr zu tun. Heute Abend werde ich sagen, weshalb ich gekommen bin. Ich werde eine Möglichkeit finden, Tora zu befreien. Noch geht das nicht. Es ist zu hell. Ich muss darauf hoffen, dass sie mir später eine Gelegenheit geben. Mein Anliegen ändert vielleicht alles. Vielleicht auch nicht.
Ich gehe der Sonne nach. Ihr Lauf am Himmel führt mich durch die Stadt. Ich klopfe an eine Tür nach der anderen. Alle bleiben zu.
Ich merke, dass ich ganz allein draußen bin. Die Kinder sind verschwunden. Ich drehe mich um. Blicke die Hausdächer entlang. Wolken schieben sich über die von den Hausdächern gebildete Linie. Ich ziehe eine Furche im Sand. Alles ist still. Falls mir jemand folgt, hält er sich gut verborgen. Ich drehe mich mit ausgebreiteten Armen immer wieder im Kreis, das Gesicht zum Himmel. Ich spüre den Wind unter den Armen. Graue Häuserzeilen. Sonne. Schatten. Sich kräuselnder Staub.
Tür um Tür.
Am Spätnachmittag öffnet sich eine.
Der Mann ist blind.
Und ich kenne ihn.
Auch er war Beamter in meiner Verwaltung. Er leitete das Landwirtschaftszulassungsamt.
Weitere Kostenlose Bücher