Die Wand der Zeit
sieht und Ja sagt, werde ich mich lächelnd bedanken undgehen. Aber das wird keiner sagen. Die Wahrheit erwarte ich nicht.
Rund tausend Häuser hat die Stadt. Ich rechne es durch. Tausend Häuser, jeweils fünf Minuten. Vierzehn, fünfzehn Stunden täglich. Das könnte eine Woche dauern. Und nicht überall wird jemand zu Hause sein, wenn ich anklopfe. Dann muss ich es wieder und wieder versuchen. Aber vielleicht bekomme ich ja schon im allerersten Haus alles zu hören. Der Bewohner tritt zur Seite und bittet mich herein. Er bittet mich, Platz zu nehmen, ergreift meine Hand und sagt mir die Wahrheit.
Theoretisch könnte jedes Haus das richtige sein. Eins von tausend. Aber natürlich ist die Wahrscheinlichkeit, dass es das richtige ist, beim ersten Haus am geringsten. Beim letzten Haus steht die Chance eins zu eins. Haben die anderen Häuser überhaupt eine Chance, das richtige zu sein? Wüsste ich doch nur, welches das letzte ist.
Vielleicht klopfe ich irgendwo an, und ein altes Weiblein zeigt die Straße entlang und sagt: »In dem Haus da hinten bekommen Sie Ihre Antwort.« Klopfe ich dort an, sagt man mir: »Nein, hier nicht, aber da hinten«, und zeigt mir ein drittes. Und so fort. Mit jedem Schritt der Wahrheit ein Stück näher und weiter von ihr weg.
Ich raste ein paar Minuten auf der Eingangstreppe des ersten Hauses. Ich halte den Kopf in den Händen. Meine Stirn fühlt sich grobkörnig an, sandig, als würde ich langsam vom Staub der Stadt begraben.
Im Haus ist es still. Ich klopfe an die Tür. Schaue durchs Fenster. Probiere die Klinke. Tue so, als wollte ich gehen, bleibe unten an der Treppe stehen, schaue mich um und lausche.
Es ist bei jedem Haus das Gleiche. Manchmal rührt sich drinnen etwas, manchmal nicht. Nie öffnet sich die Tür.
Ist es das Haus von jemandem, den ich kenne, rufe ich seinen Namen. Warte auf Antwort. Rufe noch einmal.
Stunden verbringe ich damit. Die Sonne sinkt. Ich mache weiter. Zunächst merke ich gar nicht, dass ich Hunger habe.
Ich mache weiter, bis der Mond hoch am Himmel steht.
Am letzten Haus, das ich mir vornehme, werfe ich mich gegen die Tür. Immer wieder. Bis ich mir die Haut aufstoße. Ich reiße wie zum Schreien den Mund auf, weiß aber nicht, ob ich einen Ton hervorbringe.
Dann mache ich Schluss. Ich gehe zum Rathaus zurück.
Aber ich kann nicht hinein. Im Mondschein gehe ich zur Tür des Marschalls. Sie ist abgeschlossen. Mit dem Messer breche ich das Schloss auf. Rechts von mir höre ich ein Husten. Es ist der Mann aus dem Büro. Ich drehe mich nach ihm um. Gehe mit dem Messer in der Hand auf ihn zu. Er tritt einen Schritt zurück. Ich bleibe stehen, nehme das Messer herunter. Scheinbar minutenlang schauen wir uns an.
So weit ist es noch nicht.
Beim Verlassen des Hofs sehe ich zu dem Fenster hinauf. Ehe ich erkennen kann, wer es ist, zieht jemand den Vorhang zu. Schon bewegt sich nichts mehr.
11
Am Morgen trete ich aus dem Unterstand und stoße beinah mit dem Marschall zusammen, der draußen auf mich wartet. Er ist allein.
»Ja?«, sage ich.
»Heute Abend. Heute Abend klären wir alles. Sie haben bei Sonnenuntergang im Rathaus zu erscheinen.«
Ich starre ihn an. »Was soll das heißen?«
»Heute Abend entscheidet sich, was mit Ihnen wird.«
»Und Andalus?«
»Andalus. Mhm. Was der ist, weiß ich.«
»Was der ist, wissen Sie.«
»Er gehört zu Ihrem Spiel. Bringen Sie ihn ruhig mit.«
»Ich spiele kein Spiel.«
»Bestimmt nicht, Bran?«
Damit dreht er sich um und geht davon. Als er um die Ecke biegt, erscheint der andere Mann. Die Arme im Rücken verschränkt, bleibt er mitten auf der Straße stehen.
Ich gehe wieder in den Unterstand und spreche Andalus an. »Ich weiß, dass Sie reden können. Jetzt muss ich mit Ihnen reden.
Langsam glaube ich nämlich, dass es Ihretwegen hier nicht vorangeht. Wäre ich allein zurückgekommen, hätten sie mich gleich wieder weggeschickt, vielleicht mit einem Pfeil zwischen den Schulterblättern. Als sie aber Bran und Andalus über denBerg kommen sahen, erfasste sie panische Angst. Angst, dass der Krieg wieder ausbricht, dass die Vergangenheit zurückkehrt. Deswegen bleiben sie jetzt in den Häusern und reden sich die Köpfe heiß.
Dieser Marschall ist nicht der, als der er sich ausgibt. Er war ein kleiner Beamter. Ich glaube nicht, dass er hinter all dem steckt. Ich glaube, er vertritt bloß jemanden. Heute Abend will er uns mitteilen, wie über uns entschieden worden ist. Ewig können sie den Schwindel
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