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Die Wand

Titel: Die Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlen Haushofer
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an, die dem Jäger gehört hatten und die mich, da sie über die Knie reichten, sehr im Gehen behinderten. Natürlich sah ich keine einzige Kreuzotter auf dem Schlag. Heute kümmere ich mich gar nicht mehr um sie. Entweder gibt es hier sehr wenig Schlangen, oder sie weichen mir aus. Wahrscheinlich finden sie mich ebenso gefährlich wie ich sie.
    Die Himbeeren waren gerade reif geworden, und ich pflückte einen großen Eimer voll und trug ihn heim. Da ich keinen Zucker hatte und nicht einkochen konnte, mußte ich die Beeren sofort aufessen. Jeden zweiten Tag ging ich in den Schlag. Es war die reinste Glückseligkeit; ich badete in Süßigkeit. Die Sonne brütete auf den reifen Früchten, und ein wilder Duft von Sonne und gärenden Früchten hüllte mich ein und berauschte mich. Es tat mir leid, daß Luchs nicht bei mir war. Manchmal, wenn ich mich von einem Busch erhob und meinen Rücken streckte, überfiel mich das Wissen, allein zu sein. Es war nicht Furcht, nur Beklommenheit. Im Himbeerschlag, ganzallein mit dornigen Stauden, Bienen, Wespen und Fliegen, begriff ich, was Luchs für mich war. Ich konnte mir damals nicht vorstellen, ohne ihn zu sein. Aber in den Himbeerschlag nahm ich ihn niemals mit. Immer noch verfolgte mich der Gedanke an Kreuzottern. Ich konnte Luchs nicht einer solchen Gefahr aussetzen, nur um mich in seiner Nähe behaglich zu fühlen.
    Erst viel später, auf der Alm, sah ich wirklich eine Kreuzotter. Sie lag auf einer Geröllhalde und sonnte sich. Von da an fürchtete ich mich nie mehr vor einer Schlange. Die Kreuzotter war sehr schön, und als ich sie so liegen sah, ganz der gelben Sonne hingegeben, war ich sicher, daß sie nicht daran dachte, mich zu beißen. Ihre Gedanken waren weit weg von mir, sie wollte nichts als in Frieden auf den weißen Steinen liegen und in Sonnenlicht und Wärme baden. Immerhin war ich froh, daß Luchs damals zurückgeblieben war. Ich glaube aber nicht, daß er sich der Schlange genähert hätte. Ich habe nie bemerkt, daß er eine Schlange oder Eidechse angriff. Manchmal wühlte er nach einer Maus; in dem steinigen Boden gelang es ihm aber selten, eine zu erwischen.
    Die Himbeerernte dauerte zehn Tage. Ich war faul, saß auf der Bank und steckte eine Beere nach der anderen in den Mund. Es wunderte mich, daß mein Fleisch noch nicht zu Himbeerfleisch geworden war. Und dann, ganz plötzlich, hatte ich genug. Es wurde mir nicht übel, ich hatte nur genug von der Süßigkeit und dem Himbeerduft. Die letzten zwei Eimer voll Beeren preßte ich durch ein Tuch, füllte den Saft in Flaschen und stellte die Flaschen in den Brunnentrog, wo das Wasser auch im Sommer eiskalt blieb. So süß die Beeren waren, der Saft schmeckte säuerlich und erfrischend, und es tat mir leid, daß er nicht unbegrenzt haltbar war. Ich habe es nie versucht, aber ohne Zucker hätte der Saft wohl auch imBrunnen zu gären angefangen. Da ich keine festen Verschlüsse besaß, konnte ich auch nicht in Dunst einkochen. Mein Hunger nach Süßigkeiten war zunächst einmal gestillt, und im Lauf der nächsten Monate hielt er sich immer in erträglichen Grenzen. Heute leide ich überhaupt nicht mehr unter ihm. Man kann sehr gut ohne Zucker leben, und der Körper verliert mit der Zeit das süchtige Verlangen nach ihm.
    Als ich zum letztenmal im Schlag war, brannte die Sonne besonders heiß auf meinen Rücken herab. Der Himmel war noch wolkenlos, aber fast bleigrau, und die Luft lag heiß und dick wie ein Brei über den Sträuchern. Es hatte vierzehn Tage nicht geregnet, und ich mußte ein Gewitter fürchten. Bisher war ich von heftigen Gewittern verschont geblieben, aber ich hatte ein wenig Angst davor, weil ich wußte, wie wild sie im Gebirge sein können. Mein Leben war auch ohne Naturkatastrophen schon schwierig und mühevoll genug.
    Gegen vier Uhr nachmittags stieg plötzlich eine schwarze Wolkenwand hinter den Fichten auf. Mein Eimer war noch nicht ganz gefüllt, aber ich beschloß aufzubrechen. Die Wespen und Fliegen hatten mich die ganze Zeit belästigt und gereizt und giftig summend meinen Kopf umkreist. Es gab auch ein paar Hornissen auf dem Schlag, die sich aber immer ganz zurückhaltend benommen hatten; heute wurden auch sie zudringlich und schössen wie wütende Weberschiffchen durch die Luft. Es sah aus, als wären sie aus reinem Gold. So schön die Hornissen waren, fand ich es doch besser, ihnen den Schlag zu überlassen.
    Die Wespen verfolgten mich noch ein Stück in den Wald und ließen dort erst

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