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Die Wand

Titel: Die Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlen Haushofer
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über sie urteilen. Sie hatte ja nie eine Möglichkeit, ihrLeben bewußt zu gestalten. Als sie jung war, nahm sie, unwissend, eine schwere Last auf sich und gründete eine Familie, und von da an war sie immer eingezwängt in eine beklemmende Fülle von Pflichten und Sorgen. Nur eine Riesin hätte sich befreien können, und sie war in keiner Hinsicht eine Riesin, immer nur eine geplagte, überforderte Frau von mittelmäßigem Verstand, obendrein in einer Welt, die den Frauen feindlich gegenüberstand und ihnen fremd und unheimlich war. Von vielen Dingen wußte sie ein wenig, von vielen gar nichts; im ganzen gesehen herrschte in ihrem Kopf eine schrecklich Unordnung. Es reichte gerade für die Gesellschaft, in der sie lebte, die genauso unwissend und gehetzt war wie sie selbst. Aber eines möchte ich ihr zugute halten: sie spürte immer ein dumpfes Unbehagen und wußte, daß dies alles viel zu wenig war.
    Ich habe zweieinhalb Jahre darunter gelitten, daß diese Frau so schlecht ausgerüstet war für das wirkliche Leben. Heute noch kann ich keinen Nagel richtig einschlagen, und der Gedanke an die Tür, die ich für Bella aufbrechen will, jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken. Natürlich war nicht damit zu rechnen, daß ich einmal Türen ausbrechen müßte. Aber ich weiß auch sonst fast nichts, ich kenne nicht einmal die Namen der Blumen auf der Bachwiese. Ich habe sie im Naturgeschichtsunterricht nach Büchern und Zeichnungen gelernt, und ich habe sie vergessen wie alles, von dem ich mir keine Vorstellung machen konnte. Ich habe jahrelang mit Logarithmen gerechnet und habe keine Ahnung, wozu man sie braucht und was sie bedeuten. Es ist mir leichtgefallen, fremde Sprachen zu erlernen, aber aus Mangel an Gelegenheit lernte ich sie nie sprechen, und ihre Rechtschreibung und Grammatik habe ich vergessen. Ich weiß nicht, wann Karl VI. lebte, und ich weiß nicht genau, wodie Antillen liegen und wer dort lebt. Dabei war ich immer eine gute Schülerin. Ich weiß nicht; an unserem Schulwesen muß etwas nicht in Ordnung gewesen sein. Menschen einer fremden Welt würden in mir die Geistesschwache meines Zeitalters sehen. Und ich glaube zu wissen, daß es den meisten meiner Bekannten nicht besser erginge.
    Ich werde nie mehr eine Möglichkeit haben, diese Mängel abzugleichen, denn selbst wenn es mir gelingen sollte, die vielen Bücher zu finden, die in den toten Häusern aufgestapelt sind, werde ich nicht mehr dazu fähig sein, das Gelesene zu behalten. Als ich geboren wurde, hatte ich eine Chance, aber weder meine Eltern, meine Lehrer noch ich selbst waren imstande, sie wahrzunehmen. Jetzt ist es zu spät. Ich werde sterben, ohne meine Chance genützt zu haben. Ich war in meinem ersten Leben ein Dilettant, und auch hier im Wald werde ich nie etwas anderes sein. Mein einziger Lehrer ist unwissend und ungebildet wie ich, denn ich bin es selbst.
    Seit einigen Tagen ist mir klargeworden, daß ich immer noch hoffe, ein Mensch werde diesen Bericht lesen. Ich weiß nicht, warum ich es wünsche, es macht doch keinen Unterschied. Aber mein Herz klopft rascher, wenn ich mir vorstelle, daß Menschenaugen auf diesen Zeilen ruhen und Menschenhände die Blätter wenden werden. Viel eher aber werden die Mäuse den Bericht fressen. Es gibt ja so viele Mäuse im Wald. Hätte ich nicht die Katze, wäre das Haus längst von ihnen überschwemmt. Aber einmal wird die Katze nicht mehr sein, und die Mäuse werden meine Vorräte fressen und schließlich sogar jedes Stückchen Papier. Wahrscheinlich fressen sie beschriebenes Papier genauso gern wie unbeschriebenes. Vielleicht wird der Bleistift ihnen Übelkeit bereiten, ich weiß nicht einmal, ob er giftig ist odernicht. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, für Mäuse zu schreiben. Manchmal muß ich mir einfach vorstellen, ich schriebe für Menschen, es fällt mir dann ein wenig leichter.
    Der August brachte schönes, beständiges Wetter. Ich beschloß, im folgenden Jahr mit der Heuernte zu warten, und das erwies sich später auch als vernünftig. Ich erinnerte mich, auf einem meiner Pirschgänge einen Himbeerschlag entdeckt zu haben. Er lag eine gute Stunde vom Haus entfernt, aber die Aussicht auf etwas Süßes hätte mich damals auch zwei Stunden gehen lassen. Da ich immer gehört hatte, Himbeerschläge wären die reinsten Tummelplätze für Kreuzottern, ließ ich Luchs zu Hause. Er fügte sich nur widerstrebend und schlich betrübt zum Haus zurück. Ich zog über meine Schuhe alte Ledergamaschen

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