Die Wand
heißt, ich sehe durch sie hindurch. Jetzt, im Winter, wenn die Bäume und Sträucher kahl sind, kann ich auch das kleine Haus wieder deutlich erkennen. Wenn Schnee liegt, sieht man fast keinen Unterschied, hier und dort weiße Landschaft, auf meiner Seite leicht entstellt von den Spuren meiner schweren Schuhe.
Die Wand ist so sehr ein Teil meines Lebens geworden, daß ich oft wochenlang nicht an sie denke. Und selbst wenn ich an sie denke, erscheint sie mir nicht unheimlicher als eine Ziegelwand oder ein Gartenzaun, der mich am Weitergehen hindert. Was ist denn auch so Besonderes an ihr? Ein Gegenstand aus einem Stoff, dessen Zusammensetzung ich nicht kenne. Derartige Gegenstände hat es in meinem Leben immer mehr als genug gegeben. Durch die Wand wurde ich gezwungen, ein ganz neues Leben zu beginnen, aber was mich wirklich berührt, ist immer noch das gleiche wie früher: Geburt, Tod, die Jahreszeiten, Wachstum und Verfall. Die Wand ist ein Ding, das weder tot noch lebendig ist, sie geht mich in Wahrheit nichts an, und deshalb träume ich nicht von ihr.
Eines Tages werde ich mich mit ihr befassen müssen, weil ich nicht immer hier werde leben können. Aber bis dahin will ich nichts mit ihr zu tun haben.
Seit heute früh bin ich überzeugt davon, daß ich nie wieder einen Menschen treffen werde, es sei denn, es lebt noch einer im Gebirge. Wenn es dort draußen noch Menschen gäbe, hätten sie längst das Gebiet mit Flugzeugen überflogen. Ich habe gesehen, daß auch niedrighängende Wolken die Grenze überfliegen können. Undsie tragen kein Gift mit sich, sonst würde ich nicht mehr leben. Warum kommen dann keine Flugzeuge? Es hätte mir schon viel eher auffallen müssen. Ich weiß nicht, wieso ich nicht daran dachte. Wo bleiben die Erkundungsflugzeuge der Sieger? Gibt es keine Sieger? Ich glaube nicht, daß ich sie jemals zu Gesicht bekommen werde. Eigentlich bin ich froh, daß ich nie an die Flugzeuge dachte. Noch vor einem Jahr hätte mich diese Überlegung in große Verzweiflung gestürzt. Heute nicht mehr.
Seit einigen Wochen scheinen meine Augen nicht ganz in Ordnung zu sein. In die Ferne sehe ich ausgezeichnet, aber beim Schreiben verschwimmen mir oft die Zeilen vor den Augen. Vielleicht kommt es auch vom schwachen Licht und daher, daß ich mit einem harten Bleistift schreiben muß. Ich war immer stolz auf meine Augen, obgleich es dumm ist, auf einen körperlichen Vorzug stolz zu sein. Etwas Schlimmeres als blind zu werden, konnte ich mir nie vorstellen. Wahrscheinlich werde ich nur ein wenig weitsichtig und muß mir keine Sorgen machen. Bald kommt mein Geburtstag wieder. Seit ich im Wald lebe, merke ich nicht, daß ich älter werde. Es ist ja keiner da, der mich darauf aufmerksam machen könnte. Niemand sagt mir, wie ich aussehe, und ich selber denke nie darüber nach. Heute ist der zwanzigste Dezember. Ich werde schreiben, bis die Frühlingsarbeit anfängt. Der Sommer wird in diesem Jahr für mich weniger anstrengend werden, weil ich nicht mehr auf die Alm ziehe. Bella wird, wie im ersten Jahr, auf der Waldwiese grasen, und ich werde mir die weiten anstrengenden Wege ersparen.
Der Februar des ersten Jahres ist auf meinem Kalender ganz leer. Ich erinnere mich aber noch einigermaßen an ihn. Ich glaube, er war eher warm und feuchtals kühl. Das Gras auf der Lichtung fing an, von den Wurzeln her grün zu werden, darüber lagen die gelben Stengel vom Herbst. Es war aber nicht föhnig, sondern mildes Westwetter. Eigentlich kein außergewöhnliches Wetter für Februar. Ich war damit zufrieden, das Wild fand überall Laub und altes Gras und konnte sich ein wenig erholen. Auch den Vögeln ging es wieder gut. Sie blieben der Hütte fern, und das hieß, daß sie mich nicht mehr brauchten. Nur die Krähen blieben mir bis zum richtigen Frühling treu. Sie saßen auf den Fichten und warteten auf Abfälle. Ihr Leben verlief nach strengen Regeln. Jeden Morgen zur gleichen Stunde fielen sie in die Lichtung ein und ließen sich nach langem Kreisen und aufgeregtem Geschrei auf den Bäumen nieder. Am späten Nachmittag, mit der Dämmerung, erhoben sie sich und zogen kreisend und schreiend über den Wald ab. Ich habe keine Ahnung, wo ihre Nachtquartiere liegen. Die Krähen führen ein aufregendes Doppelleben. Mit der Zeit faßte ich eine gewisse Zuneigung zu ihnen und konnte nicht verstehen, daß ich sie früher einmal nicht gemocht hatte. Da sie in der Stadt nur auf schmutzigen Ablageplätzen zu sehen waren, schienen sie
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