Die Wand
süßen Milchgeruch. Er trank ein wenig warme Milch und untersuchte dann, von Neugierde gepackt, jedes Ding in der Hütte. Als ich gerade den Kasten öffnete, kroch er sofort hinein. Ich glaube, es war ein Glücksfall, daß auf der Alm wie im Jagdhaus in der Küche ein Kleiderkasten stand. Von diesem Augenblick an hatte Tiger sich mit der Übersiedlung abgefunden. Sein Kasten war vorhanden, und er war wieder mit dem Leben ausgesöhnt. Den ganzen Sommer hindurch schlief er darin. Seine Mutter ließ sich nicht unter dem Bett hervorlocken, und so stellte ich ihr ein wenig Milch hin, wusch mich kalt am Brunnen und ging zu Bett. Das Fenster ließ ich offenstehen, und die kühle Luft strich über mein Gesicht hin. Ich hatte nur ein kleines Polster und zwei Wolldecken mitgebracht und vermißte meine warme, weiche Steppdecke. Das Stroh raschelte unter mir, aber ich war immer noch müde genug, um bald einschlafen zu können.
Nachts erwachte ich vom Mondlicht, das auf mein Gesicht fiel. Es war alles sehr fremd, und voll Staunen merkte ich, daß ich Heimweh nach dem Jagdhaus hatte. Erst als ich Luchs im Ofenloch leise schnarchen hörte, wurde mir ein wenig leichter ums Herz, und ich versuchte, wieder einzuschlafen, aber es gelang mir lange Zeit nicht. Ich stand auf und sah unter das Bett. DieKatze war nicht da. Ich suchte sie überall in der Hütte, aber erfolglos. Sie mußte, während ich schlief, aus dem Fenster gesprungen sein. Es war sinnlos, nach ihr zu rufen, sie folgte doch nie. Ich legte mich wieder hin und wartete, den Blick aufs Fenster gerichtet, die kleine graue Gestalt auftauchen zu sehen. Davon wurde ich so müde, daß ich wieder einschlief.
Ich erwachte davon, daß Tiger auf mir spazierenging und mich mit seiner kalten Nase an der Wange berührte. Es war noch nicht hell, und für ein paar Augenblicke war ich verwirrt und begriff nicht, warum mein Bett verkehrt herum stand. Tiger aber war völlig ausgeruht und zu einem Spielchen aufgelegt. Da fiel mir ein, wo ich war und daß die alte Katze in der Nacht weggelaufen war. Ich versuchte noch einmal, von allen Unannehmlichkeiten des neuen Tages in den Schlaf zu flüchten. Dies empörte Tiger, und er schlug seine Krallen in die Wolldecke und schrie so laut, daß an Schlaf nicht mehr zu denken war. Resigniert setzte ich mich auf und zündete die Kerze an. Es war halb fünf, und das erste kalte Morgengrauen mischte sich mit dem gelben Kerzenschein. Tigers morgendliche Euphorie war eine seiner lästigsten Eigenschaften. Ich stand seufzend auf und suchte die alte Katze. Sie war nicht zurückgekommen. Bedrückt wärmte ich ein wenig Milch auf dem Kocher und versuchte Tiger zu bestechen. Er trank zwar die Milch, geriet aber daraufhin in einen Zustand von fröhlicher Raserei und gab vor, meine Fußknöchel für große weiße Mäuse zu halten, denen er den Garaus machen mußte. Es war natürlich alles Theater; er biß und kratzte unter wildem Knurren, aber ohne mir die Haut zu ritzen. Es genügte aber, um die letzte Spur von Schläfrigkeit aus meinem Kopf zu vertreiben. Auch war Luchs von dem Getobe erwacht, kroch aus dem Ofenloch und begleiteteTigers Scheinkämpfe mit aufmunterndem Gebell. Luchs kannte keine geregelten Schlaf Zeiten; sobald ich mich mit ihm befaßte, war er hellwach; wenn ich mich nicht um ihn kümmerte und er mich auch nicht dazu bewegen konnte, schlief er einfach ein. Ich glaube, wenn ich plötzlich verschwunden wäre, hätte er sich zu einem ewigen Schlaf niedergelegt. Ich konnte die Hochstimmung der beiden nicht teilen, weil ich an die alte Katze dachte. So öffnete ich die Tür, und Luchs stürzte in Freie, während Tiger seine rasenden Tanzübungen fortsetzte.
Der Himmel war blaßgrau und färbte sich im Osten rosig, und die Wiese starrte vor Tau. Ein schöner Tag brach an. Es war ein seltsames Gefühl, unbehindert von Bergen und Bäumen, eine weite Fläche überblicken zu können. Und es war nickt sogleich angenehm und befreiend. Meine Augen mußten sich erst an die Weite gewöhnen, nach einem Jahr, das ich im engen Talkessel verbracht hatte. Es war unangenehm kühl. Ich fror und ging ins Haus, um mich warm anzuziehen. Das Ausbleiben der Katze bedrückte mich sehr. Ich wußte sofort, daß sie sich nicht in der Nähe aufhielt, sondern ins Tal zurückgelaufen war. Aber war es ihr auch wirklich geglückt, dahin zu gelangen? Ich hatte ihr Vertrauen, das ohnedies noch nicht sehr gefestigt war, böse enttäuscht. Ihr Verschwinden warf einen düsteren
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