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Die Wand

Titel: Die Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlen Haushofer
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Stelle rosarot,und der Wald versank hinter zarten, leuchtenden Schneeschleiern. Die Sonne, man konnte es ahnen, hing irgendwo hinter unserer Schneewelt, aber sie erreichte uns nicht. Die Krähen saßen stundenlang regungslos auf den Fichten und warteten. Ihre dunklen, dickschnäbligen Umrisse vor dem graurosa Himmel hatten etwas an sich, was mich rührte. Fremdes und doch so vertrautes Leben, rotes Blut unter schwarzem Gefieder, waren sie mir das Sinnbild der stoischen Geduld. Einer Geduld, die wenig zu erhoffen hat und einfach wartet, bereit, das Gute wie das Böse hinzunehmen. Ich wußte so wenig über die Krähen; wäre ich auf der Lichtung gestorben, hätten sie mich zerhackt und zerrissen, ihrer Aufgabe getreu, den Wald von Aas freizuhalten.
    Wie schön war es an diesen Tagen, mit Luchs durch den Wald zu gehen. Die kleinen Flocken legten sich sachte auf mein Gesicht, der Schnee knirschte unter meinen Füßen, Luchs hörte ich kaum hinter mir. Ich betrachtete oft unsere Spuren im Schnee, meine schweren Absätze und die zierlichen Ballen des Hundes. Mensch und Hund auf die einfachste Formel gebracht. Die Luft war rein, aber nicht kalt, es war eine Lust zu gehen und zu atmen. Wären meine Beine kräftiger gewesen, ich hätte tagelang so durch den verschneiten Wald gehen können. Aber sie waren eben nicht kräftig. Am Abend zogen und brannten sie, und ich mußte sie oft in feuchte Handtücher wickeln, um einschlafen zu können. Im Lauf des Winters ließen die Beschwerden ein wenig nach und stellten sich erst im Sommer wieder ein. Es ist mir lästig, von meinen eigenen Beinen abhängig zu sein. Soweit es anging, kümmerte ich mich nicht darum. Bis zu einer gewissen Grenze kann man sich an Schmerzen sehr gut gewöhnen. Da ich meine Beine nicht kurieren konnte, gewöhnte ich mich an die Schmerzen.
    Weihnachten rückte immer näher, und alles deutete auf einen glitzernden Weihnachtswald hin. Das gefiel mir nicht sehr. Ich fühlte mich noch immer nicht sicher genug, um ohne Furcht an diesen Abend zu denken. Ich war anfällig gegen Erinnerungen und mußte vorsichtig sein. Es schneite bis zum zwanzigsten Dezember. Der Schnee lag jetzt fast einen Meter hoch, eine feinkörnige bläulichweiße Decke unter einem grauen Himmel. Die Sonne unternahm keine Vorstöße mehr, und das Licht blieb kalt und weiß. Noch mußte ich nicht für das Wild fürchten. Der Schnee war nicht gefroren, und die Tiere konnten das Gras auf der Lichtung ausscharren. Kam jetzt ein Frost, würde sich eine Harschdecke bilden und der Schnee würde eine gefährliche Falle werden. Am Nachmittag des zwanzigsten wurde es ein wenig wärmer. Die Wolken färbten sich schiefergrau, und der Schnee fiel in wäßrigen Flocken. Ich hatte Tauwetter nicht gern, aber für das Wild war es ein Geschenk. Nachts schlief ich schlecht und hörte das Sausen des Windes, der vom Berg herunterstrich und die Schindeln klappern ließ. Ich lag lange wach, und meine Beine schmerzten stärker als je zuvor. Am Morgen war der Schnee stellenweise schon weggefressen. Der Bach führte Hochwasser, und auch in der Schlucht rannen auf der Straße Schmelzwasserbäche. Ich war froh für das Wild. Vielleicht zu Unrecht, denn wenn es nach dem Tauwetter fror, würde es unmöglich sein, die harte Erde aufzuscharren. Die Natur schien mir manchmal eine einzige große Falle für ihre Geschöpfe.
    Im Augenblick war das Wetter günstig; die Waldwiese lag fast ganz schneefrei in der Sonne, die plötzlich zwischen schwarzen Wolken aus einem violetten Himmel brach. Die Weihnachtsstimmung war verflogen, und dafür war ich bereit, den Föhn auf mich zu nehmen. Ichhatte Herzbeschwerden, und die Tiere wurden unruhig und gereizt. Tiger erlitt einen neuen Anfall von Liebeswut. Seine topasfarbenen Augen wurden trüb, seine Nase heiß und trocken, und er wälzte sich klagend vor meinen Füßen. Später rannte er in den Wald.
    Nach allem, was ich gesehen habe, kann die Verliebtheit für ein Tier kein angenehmer Zustand sein. Sie können ja nicht wissen, daß er nur vorübergehend ist; für sie ist jeder Augenblick Ewigkeit. Bellas dumpfe Rufe, das Jammern der alten Katze und Tigers Verzweiflung, nirgends eine Spur von Glück. Und nachher die Erschöpfung, das glanzlose Fell und der totenähnliche Schlaf.
    Der arme Tiger war also schreiend in den Wald gerannt. Seine Mutter hockte mürrisch auf dem Boden. Sie hatte ihn wieder angefaucht, als er zärtlich werden wollte. Ich faßte sie scharf ins Auge und fand, daß sie

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