Die Wanderbibel
Dobel, haben gläubige Mitmenschen einen »Engelspfad« angelegt, der über das Dasein und den Heils nutzen der geflügelten Bibelwesen für den Menschen »aufklärt«.
Vom oberhalb Moosbronns gelegenen Friedhof blickt man über Streuobstwiesen, das bauchig-spitze Türmchen der Kapelle überragt das Dörflein, der dunkle Tannschach berg gibt den Hintergrund ab. »So und nicht anders ist der Schwarzwald, den wir alle lieben. Ach, wie ist unsere Heimat so schön!«, tönte Anja – das Motiv, das sie so lobte, ist bei Kitschmalern nicht unbeliebt –, und ich fand, dass sie allmählich übertrieb. Mir kam jenes kapitale Hirschgeweih in den Sinn, das über der Tür einer bewirtschafteten Hütte montiert war, an dessen Enden der Wirt zwei Klopapierrollen aufgespießt hatte. »Wie oft sind wir durch das wunderschöne Moosbronn gekommen! Weißt du noch, im Hirschen, der uralte Mann am Nebentisch, der eine fette Fliege nach der anderen mit seiner Hand fing und in seinen fast leeren Bierkrug warf?« Ein schöner Tod, dachte ich. Ich konnte mich noch so sputen, Anja hielt mit, sie ging neben mir, beglückt von Serotonin und Dopamin. Die Schokolade, das Wasser und das Taschenmesser hatten einen nachhaltigen Energieschub erzeugt. Ich hatte wohl von alldem zu wenig abbekommen, vor allem aber kein Taschenmesser gefunden. Hoffentlich erschöpfte sich Anja beim Aufstieg auf den Mahlberg, hoffentlich versiegte der Redeschwall. Mir knurrte der Magen, mit leerem Bauch ging jedwede gute Laune verloren, aber erstaunlicherweise wanderte ich mit Hunger schneller, sogar mit großem Hunger. Ich freute mich, ja ich gierte nach den Fleischbällchen, nach der scharfen Paprika und einer Riesenportion Kartoffelsalat, wobei mir plötzlich Epikur in den Sinn kam: »Der Weise aber entscheidet sich bei der Wahl der Speisen nicht für die größere Masse, sondern für den Wohlgeschmack.« Heute war ich kein Weiser.
Der Aufstieg durch gepflegte Waldwege auf den knapp über 600 Meter hohen Buckel ist gemütlich, zuletzt führt ein schmaler, steiler Pfad zum höchsten Punkt. Der Mahl berg ist wohl der typisch deutsche Mittelgebirgsberg schlechthin in einer typisch deutschen Landschaft. Würde man ein Foto in – sagen wir – nordöstlicher Richtung aufnehmen, würde ein Bayer sagen, »logisch, dös is im Bayrischen Woald«, ein Hesse würde die Gegend südlich von Kassel vermuten, ein Rheinländer in der Eifel. Die Bundesrepublik ist zu großen Teilen bewaldetes Hügelland, unterbrochen von landwirtschaftlich genutzten Flächen, Dörfern und Kleinstädten bis 5000 Einwohner. Wer hier im Nordschwarzwald wandert, sieht mit großer Wahrscheinlichkeit ähnliche Bergkuppen, Baumarten, Pflanzen, mit etwas Glück sogar Tiere, wie im Solling, in der Eifel, im Kaufunger Wald, im Wiehengebirge oder Hunsrück. Der typisch deutsche Berg ist 600 Meter hoch – der Mahlberg im Nordschwarzwald bringt es auf 614 Meter, sein Namensvetter im Niederwesterwald leider nur auf 359 Meter. Der höchste Berg des Odenwaldes ist der Katzenbuckel (626 Meter), im Pfälzer Bergland ist der Donnersberg mit 687 Metern das höchste der Gefühle, das Knüllgebirge bringt es mit dem Eisenberg auf eine maximale Höhe von himmelsstürmenden 636 Metern. Der niedrigste höchste Berg und zugleich nördlichste Mittelgebirgsgipfel der Bundesrepublik ist der Stemweder Berg auf der Grenze zwischen Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen (181 Meter), der Große Beerberg des Thüringer Waldes bringt es dagegen auf luftige 983 Meter, der Große Feldberg im Taunus auf 102 Meter weniger. Berühmte deutsche Höhenzüge, wie das Siebengebirge und der Teutoburger Wald, schwin gen sich auf in eine Höhe bis zu 460 beziehungsweise 446 Meter, das Kletterparadies des Elbsandsteingebirges reicht bis in eine Höhe von 723 Metern. Was zu beweisen war: Der Durchschnittswert aller genannten Berge beträgt exakt 600 Meter, statistisch ist das allerdings nicht signifikant.
Ich keuchte, Anja schwieg, hatte aber gute Laune, denn das Taschenmesser hatte eine Besonderheit: Es ließ sich in zwei Teile auseinandermontieren, in eine kleine Gabel und ein Messer – perfekt, um eine Büchse Fisch zu verspeisen, die wir neben einer Packung Pumpernickel immer dabeihaben, quasi als Notration. »Du wirst doch das Ding erst in die Spülmaschine stecken«, protestierte ich, als sie auf den letzten Metern von ihrem Fundstück schwärmte. Anja pries die Vorzüge des Produktes, das sie so noch nie in einem Outdoor-Shop gesehen
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