Die Wanderbibel
hatte. Aus unerfindlichen Gründen war Anja immer die einzige Frau neben einem halben Dutzend Männern, die vor den Vitrinen mit den Schweizer Messern standen und diese bestaunten.
Übrigens tragen wir unsere »Notration« seit einer Wanderung nach dem Sturm Lothar bei uns: Der Orkan hatte neben den Bäumen auch reichlich Wanderschilder geknickt. Ein Komiker hatte eines dieser Schilder wieder aufgerichtet, allerdings zeigten sie in die falsche Richtung, weshalb wir uns gnadenlos verlaufen hatten, gründlich vorbei an unserem Ziel, der Gaststätte »Teufelsmühle« – das Baumchaos hatte zudem jede Orientierung verhindert.
Eine schmale Betonröhre, deren Spitze über die Baumkronen herausragt, eine größere Holzhütte, ein Kinderspielplatz, auf dem sich zwei Kids mit einer Schaukel vergnügten – das ist der »Gipfel« des Mahlbergs. »Auf den Turm geht’s aber erst nach der Siesta«, betonte ich, während Anja sich auf ein Bänkchen fallen ließ und demonstrativ stöhnte: »Es reicht!« Schon während der ersten Bissen in die Fleischbällchen, Radieschen und Möhren gähnte sie, während ich mich daran erinnerte, wie sie einmal einem Trupp Jugendlicher, der in einem evangelischen Freizeitheim ein Wochenende verbrachte, zwei Flaschen Bier aus einem Kasten klaute, welche die Kids wohl heimlich in einem Gesträuch versteckt hatten, das Anja aufsuchen musste. In diese Versuchung käme sie heute wohl kaum. Anja öffnete eine Tupperdose mit den Resten des Kartoffelsalates von der Betriebsfeier, dekoriert mit Cocktailtomaten: »Für jeden zwei«, strahlte sie mich an und reimte: »In allen vier Ecken sollen Tomaten drin stecken.« Anja litt am Wanderdelirium. Ihr Körper hatte schon so viele Drogen produziert, dass ihr nur noch Nonsens einfiel. Ich schaufelte mir einige Gabeln voll hungrig in den Mund und hoffte, dass dieser Effekt bei mir noch eintreten würde.
Als wir satt waren (»Der Anfang und die Wurzel alles Guten ist die Lust des Bauches«, schrieb Athenaois frei nach Epikur) und Anja die Tupperdosen wieder im Rucksack verstaut hatte, beschloss sie, keinen Schritt mehr zu gehen. Eine Siesta auf den Bänken, »jetzt und hier, das rat ich dir«, delirierte sie, legte sich den Rucksack unter den Kopf und streckte die Beine aus. Eine ordentliche Siesta gehört unabdinglich zu einer Wanderung, dieser Maiensamstag war wohltemperiert, kein Lüftchen würde uns unter das T-Shirt wehen und auskühlen lassen. Meine Müdigkeit hielt sich jedoch in Grenzen. Zumal Anja anfing zu schnarchen. Aha, dachte ich, sie hat gestern Abend auch noch geraucht. Die Kinder auf dem Spiel platz hatten sich vermehrt. Trotzdem, ich entspannte mich, gedachte einiger Übungen des Autogenen Trainings und rief mir den kleinen Schwätzer ins Gedächtnis. Jahrelang wanderten wir im Frühling durch die Wälder, wo uns stets das nervöse Gezwitscher eines Vogels begleitete, den wir auf keinem Baum, in keinem Strauch jemals zu Gesicht bekamen. »Da ist er wieder, der kleine Schwätzer«, sagte Anja jedes Mal. Bis sie sich eines Tages die Mühe machte und im Internet dutzendweise Vogelstimmen anhörte, nachdem sie es nicht geschafft hatte, die Vogelstimmen-CD von den Nachbarn auszuleihen. »Unser kleiner Schwätzer ist die Mönchsgrasmücke«, verkündete sie eines Abends.
Ich war kurz davor wegzudösen, Anjas Schnarchen erinnerte mich an das samstägliche Rasenmähen des Nachbarn in meinem Elternhaus, das mich als Teenager in den Mittagsschlaf begleitete. Diesen benötigte ich nach den Nächten im Jugendzentrum dringend. Über uns zog ein verspielter Pilot mit einem Kleinflugzeug seine Runden. Ich träumte vom kleinen Schwätzer, über mir rauschten die Baumkronen, es quietschte, es rasselte, ein metallischer Schlag, dann ein jäher Schrei. Ich fuhr erschreckt hoch. Ein Spaßterrorist! Einer der widerlichen Egoisten der Wälder, Zerstörer von Auen, Fluren, Pfaden und Wegen, der Schrecken der Ringelnattern, Hirschkäfer, Echsen, Kröten und anderem Kleingetier, Feindbild der Nordic Walker, Wanderer, Flaneure, Mütter mit Kindern und Opas mit Enkeln – ein Mountainbiker war einfach vom Fahrrad gefallen. Ein erschöpfter, untrainierter Nicht-Sportler hatte es gewagt, auf den Mahlberg zu radeln und mich mit dem Schrei eines debilen Halbaffen aus dem wohl verdienten Mittagsschlaf zu schrecken! Mein Herz hämmerte, der Blutdruck war im Keller, mein Rücken schmerzte von der harten Bank, ich musste dringend ins Gebüsch und Anja: Anja schnarchte. Meine
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