Die Wanderbibel
Gattin schlief den Schlaf der verkaterten Gerechten, den Belohnungsschlaf derer, die den inneren Schweinehund überwunden, schon fünfzehn Kilometer auf dem Buckel und eine erkleckliche Menge Kartoffelsalat und Fleischbällchen im Bauch hatten.
Eine Siesta ohne Tiefschlafphase ist eine Tortur. Der Mountainbiker hatte sich wieder aufgerappelt und inspizierte eventuelle Schäden an seinem Fetisch. Er drehte die Pedale vorwärts und rückwärts, während mir sämtliche gefährliche Begegnungen mit Spaßterroristen einfielen. Hast du Trottel also heute Vormittag schon dein Auto in die Waschanlage gefahren, dachte ich, quälte mich in die Senkrechte, schlich zu Anja und weckte sie mit einem Küsschen. Anja schlug die Augen auf, drehte sich behände, ja elegant, saß aufrecht auf dem Bänkchen und lobte die herausragende Qualität ihres Schläfchens.
»Rauf auf den Turm!«, wollte sie stehenden Fußes.
»Mein Kreislauf ist im Keller«, antwortete ich, »geh alleine, ich kenne die Aussicht. Voller Bauch marschiert nicht gern.« An einem Tag wie heute konnte sie mit etwas Glück dutzende von Drachenfliegern und Matratzenseglern beobachten, welche am Berg gegenüber starteten. Anja verschwand joggend in der Röhre, ich machte ein paar Dehnübungen und suchte ein diskretes Plätzchen.
Im Schwarzwald, zumal im Nordschwarzwald, gibt es spektakulärere Aussichtstürme als den Mahlbergturm, wie übrigens in allen Mittelgebirgen. Mit dem Unterschied, dass man etwa vom Hornisgrinde- oder aber dem Hohlohturm an wenigen Tagen des Jahres eine einmalige Aussicht hat: Der Hohloh ist nämlich der nördlichste Punkt mit Alpensicht im Schwarzwald. Man muss bereit sein, an einem kalten und klaren Wintertag auf den Turm zu steigen und zu frieren – der Berg ist exponiert, ein Tag mit sieben Grad Minus und Sturm aus Nordost ist uns lebhaft in Erinnerung. Noch bei keiner Alpentour hatte Anja derart blaugefrorene Finger. Milder war jener 6. Januar, zumindest oberhalb von 600 Metern. Unten in der Rheinebene lag seit Tagen der Nebel, in Karlsruhe hatte es minus 15 Grad, auf dem Hohloh war es sage und schreibe zwanzig Grad wärmer. Und: In der Ferne schimmerten die Alpen, in unglaublichen 254 Kilometern Entfernung erkannte man sogar den Gipfelaufbau der Jungfrau. Erst seit der Erfindung von Google-Earth können Alpenpanorama-Fans exakt ermitteln, welche Spitzen dort über dem Horizont zu sehen sind – im Internet finden sich Programme, welche von jedem beliebigen Punkt der Erde aus Bergpanoramen virtuell erstehen lassen und diese sogar beschriften. Alle Rätsel in Sachen Sichtbarkeit von Berggipfeln unter Einberechnung der Erdkrümmung wären in den Zeiten von Google gelöst – wenn es keine Fata Morgana gäbe, also den Umstand, dass Gegenstände, mithin Berge, die unter dem Horizont liegen, nach oben gespiegelt werden können. Mehr noch: Ein optisches Phänomen namens »Refraktion« sorgt dafür, dass der Blick nicht geradeaus über die Erdoberfläche wandert, sondern ein klein wenig gekrümmt. Man sieht also bei Inversionswetterlagen mehr Berge am Horizont als die Google-Earth-Anwendungen ausspucken, man blickt weiter. Dummerweise verzerrt eine Fata Morgana jedoch die Berge. Beim Blick vom Hohloh Richtung Urner Alpen erkennt man auf den ersten Blick den charakteristischen Sargdeckel des Tödis, auf dem sich aber binnen weniger Minuten ein Türmchen bilden kann, die ganze Gebirgsgruppe verwandelt sich sogleich in die Silhouette von New York oder einen Hochseedampfer – der Fantasie der Natur beziehungsweise ihrer Betrachter sind keine Grenzen gesetzt. Es können sich sogar einzelne Teile der Gipfel ablösen und frei im Himmel schweben. Mehr noch: Je nach Temperierung der verschiedenen Luftschichten wurden Alpenspiegelungen beobachtet, während derer die Alpenkette kopfstehend nach oben geklappt erschien. Angeblich wurde in den späten siebziger Jahren die kopfstehende Alpenkette vom Brocken im Harz aus gesehen – fotografisch dokumentieren lassen sich solche Phänomene erst mit den hoch entwickelten Digitalkameras. Die Zeiten jedenfalls sind vorbei, während derer ich mit einer auf dem Boden aus gebreiteten Süddeutschland- und Schweizkarte und einer Schnur, die ich mit einer Nadel am Hohloh-Gipfel festgepinnt hatte, mühselig die am Vortag gesehenen Alpen gipfel identifizierte beziehungsweise über sie mutmaßte. Heute wähle ich das entsprechende Programm und gebe die Hohloh-Koordinaten ein. Fata Morganas lassen sich natürlich auch in
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