Die Wanderhure
deckenhohe Fenster mit Scheiben aus bemaltem Glas erzählten die Leidensgeschichten der heiligen Märtyrer, denen der Dominikanerorden besonders verbunden war. Die mit feinen Schnitzereien verzierte Decke bestand aus dunkel gebeiztem Holz und wurde von mannsstarken Balken getragen, auf die man die Wappen aller Bischöfe von Konstanz und der Äbte des Inselklosters gemalt hatte. All das gab dem Eintretenden das Gefühl, an einem der erhabensten Orte der Christenheit zu stehen.
Hinter einem aus Stein gehauenen Tisch an der Stirnseite des Saals stand ein prächtiger Stuhl, wie der Kaiser selbst kaum einen schöneren besaß. Darauf hatte der bischöfliche Richter Honorius von Rottlingen, ein Dominikanermönch im weißschwarzen Ordenshabit, Platz genommen. Rechts und links neben ihm saßen seine beiden Beisitzer, Mönche wie er, ebenfalls auf hochlehnigen Stühlen, während der Gerichtsschreiber sich mit einem einfachen Schemel begnügen musste. Zwei Schritte von dem Richtertisch entfernt an der Seitenwand stand ein einzelner, ebenfalls mit reichen Schnitzereien versehener Stuhl für den Ankläger bereit. An diesem Tag wurde diese Rolle Magister Ruppertus zuteil, der in dem Verfahren als Ankläger und als Geschädigter auftrat. Ihm gegenüber an der anderen Wand lag dasRichtschwert des bischöflichen Gerichts auf einem wuchtigen, aber unverzierten Holztisch, und direkt daneben hatte man die Bank für den Konstanzer Henker aufgestellt. Dahinter hielten sich mehrere Gerichtsdiener bereit, die Befehle des Richters auszuführen.
Die Stühle und Bänke für die Zuschauer waren leer und die für die Zeugen nur spärlich besetzt. Die beiden Handwerksmeister Gero Linner und Jörg Wölfling litten offensichtlich noch unter den Nachwirkungen der halb durchzechten Nacht, denn sie fassten sich immer wieder an den Kopf und sahen sich so scheu und bedrückt um, als hätten sie den viel gerühmten Bürgerstolz der Konstanzer an der Pforte abgegeben. Am anderen Ende der gleichen Bank saßen Utz Käffli und der Schreiber. Der Fuhrmann musterte seine Umgebung mit einem respektlosen Grinsen, so als würde er sich über die steife Würde des Ortes und der Ordensbrüder amüsieren, während Linhard die Augenlider zusammenpresste und sichtlich mit dem reichlich genossenen Alkohol zu kämpfen hatte.
Matthis Schärer hatte sich auf die hintere Zeugenbank gesetzt, weit weg von den Männern, die seine Tochter beschuldigt hatten. Sein Gesicht wirkte grau und eingefallen, und eine Gesichtshälfte hing leicht herunter. Er klammerte sich an seinen Schwager, der ihn bis hierher gestützt hatte, und bejammerte leise sein Unglück. Seine Stimme und sein Blick verrieten, dass sein Geist die Ereignisse der Nacht nicht verkraftet hatte.
Mombert wirkte ebenfalls angeschlagen, konnte im Gegensatz zu Matthis jedoch klar denken. Ihn erschreckten die Geschwindigkeit, mit der Magister Ruppertus den Prozess gegen Marie in Gang gebracht hatte, und die kalten, abweisenden Mienen des Richters und der Beisitzer. Er hielt es für ein schlechtes Omen, dass Maries Fall vor dem bischöflichen Gericht verhandelt wurde und nicht vor dem Geschworenengericht der Stadt Konstanz, das für jeden Einwohner zuständig war, der das verbriefte Bürgerrechtbesaß. Dort wäre Meister Matthis und ihm eher geglaubt worden als einem herumzigeunernden Fuhrmann und einem Dienstboten, und sie hätten Marie wirkungsvoll verteidigen können. Hier aber besaßen sie im Gegensatz zu Magister Ruppert, der am Bischofshof als Rechtsberater fungierte und ein gern gesehener Gast war, nicht den geringsten Einfluss.
Mombert ärgerte sich über Meister Jörg, der als Mitglied des Hohen Rats von Konstanz gegen die Verhandlung vor einem bischöflichen Gericht hätte protestieren müssen. Seiner Meinung nach wurden mit diesem Prozess die verbrieften Rechte der Stadt übergangen. Jörg Wölfling hockte jedoch nur stumm auf seinem Platz und ließ sich kein Wort und keine Geste um sich herum entgehen.
Ein Räuspern forderte die Aufmerksamkeit der Anwesenden. Honorius von Rottlingen überflog den Heiratsvertrag, den Ruppert ihm auf den Tisch gelegt hatte, und las jene Zeilen vor, in denen Meister Matthis seinem Schwiegersohn beeidet hatte, ihm seine Tochter als reine und ehrbare Jungfrau zu übergeben.
»Bringt die Metze herein!«, befahl er schließlich.
Der Richter schien sein Urteil schon gefällt zu haben. Mombert schüttelte sich, denn ihm grauste vor dem fanatischen Mönch, und als der
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