Die Wanderhure
Kälte, die in ihren Leib kroch, stärker noch als vorher, doch sie konnte das Brennen in ihrem Innern nicht lindern. Mühsam rutschte sie hoch, legte ihren Kopf auf die gefesselten Hände und zog die Knie an die Brust, um den Schmerz ertragen zu können. Immer noch quoll Blut zwischen ihren Beinen hervor, und sie wand sich in Krämpfen, die ihr Innerstes schier nach außen kehren wollten.
Sie war überzeugt, im Sterben zu liegen, und betete zur Jungfrau Maria und allen Märtyrern, dass der Tod sie möglichst bald von ihren Qualen erlösen möge. Doch niemand erhörte ihr Flehen. Irgendwann wurde ihr klar, dass der Tod sie verschmähte, und sie fragte sich verängstigt, wie es weitergehen sollte. Die Leute würden nicht danach fragen, ob sie durch fremde Schuld entehrt und geschändet worden war, sondern mit Fingern auf sie zeigen, sie demütigen und schlecht über sie reden. Selbst wenn ihr Vater sie mit Gold aufwöge, würde kein ehrlicher Mann mehr um sie werben, noch nicht einmal ein armer Bursche wie Michel. Ihrem Vater würde nichts anderes übrig bleiben, als sie einem versoffenen Kerl wie dem Schafscherer Anselm zur Frau zu geben, dem derWein, den er sich von ihrer Mitgift kaufen konnte, wichtiger war als ihre Unberührtheit und ihr guter Ruf.
Wieder kreisten Maries Gedanken um die Männer, die sie zuerst verleumdet und nun ihr Leben auf so brutale Weise zerstört hatten. Doch sie fragte nicht mehr nach dem Warum, sondern erstickte beinahe an ihrem Hass und wünschte sich, mit eigenen Augen zu sehen, wie die drei für ihre Untaten verurteilt wurden, wie sie sich unter der Peitsche des Henkers wanden und unter Hohn und Spott aus der Stadt gejagt wurden. Eine schlimmere Strafe sahen die Gesetze für die Schändung einer ehrbaren Jungfrau leider nicht vor.
Ungeduldig wartete sie auf den Morgen. Wenn sie von einer älteren Bürgerin aus Konstanz untersucht wurde, musste doch die Wahrheit ans Licht kommen. Die Matrone würde das Blut sehen, die frischen Spuren der Schändung, und wissen, dass sie vor dieser Nacht noch Jungfrau gewesen war. Wenn die drei Schurken es dann wagten, ihre Beschuldigungen vor dem Richter zu beschwören, würden sie als Meineidige entlarvt und bekamen die rechte Hand abgehackt.
Auch diese Strafe schien Marie viel zu wenig für das, was man ihr angetan hatte. Besser war es, wenn sie die Nacht nicht überlebte, denn dann würde man die drei Bestien des Mordes anklagen und sie zum Tode verurteilen. Noch während sie sich vorstellte, wie Linhard an ihrem toten Körper vorbei zur Hinrichtung geführt wurde, kamen ihr die Worte in den Sinn, die der Pfarrer ihrer Gemeinde mit Vorliebe predigte: Liebe deine Feinde und vergebe denen, die dir Schmerz zufügen. In ihr war jedoch keine Liebe mehr, sondern so viel Hass, dass sie bereit war, sich dem Teufel in die Arme zu werfen, nur um ihre drei Peiniger sterben zu sehen.
Mit einem Mal schrak Marie vor ihren eigenen Gedanken zurück und versuchte, bei der Gottesmutter und den Heiligen Schutz zu suchen, um dem Wahnsinn zu entkommen, der sichihrer bemächtigte. Doch der Zorn erstickte jedes Gebet auf ihren Lippen.
V.
D urch das vergitterte Loch fiel der Schein des erwachenden Tages und tauchte die Decke in ein schmieriges Rot, das wie Blut auf Marie herabzutropfen schien. Sie barg das Gesicht auf den Armen, um nichts sehen zu müssen, und als sich ein Schlüssel im Schloss bewegte und die Riegel draußen zurückgeschoben wurden, erstarrte sie vor Angst und wagte nicht mehr zu atmen. Kamen die Männer zurück, um sie noch einmal zu quälen?
Als eine kräftig gebaute, ältere Frau eintrat, begann Marie vor Erleichterung zu weinen. Es war die Witwe Euphemia, die drei Häuser neben dem ihren wohnte und Marie schon seit ihrer Geburt kannte.
Die Frau steckte ihre Fackel in den Ring über Maries Kopf, stemmte die Hände in die Hüften und sah auf das verkrümmt zu ihren Füßen liegende Mädchen herab. Der Blick, mit dem sie Marie maß, hätte auch einer zu mageren Schweinehälfte gelten können. Ohne ein Wort zu sagen, bückte sie sich, packte Maries Beine und zog sie nach vorne. Unwillkürlich versteifte Marie sich, doch die Witwe zwang sie mit hartem Griff, die Schenkel zu öffnen. Marie kam es so vor, als weide die Frau sich an ihrem nackten, von Blut und Erbrochenem besudelten Körper, und wand sich innerlich vor Scham.
Die Frau ließ Maries Bein los und richtete sich mit einem schadenfrohen Lachen auf. »Da siehst du, wohin es führt, wenn ein
Weitere Kostenlose Bücher