Die Wanderhure
Stadtbüttel Marie im härenen Kittel und mit gefesselten Händen hereinführte, rollten Tränen über seine Wangen. Sein Schwager beugte sich nach vorne, als wäre ihm übel, und schlug die Hände vors Gesicht.
Unter Maries Augen lagen dunkle Schatten, sie zitterte heftig, und ihr Gesicht verzerrte sich, als litte sie unter starken Schmerzen. All das tat ihrer engelhaften Schönheit jedoch keinen Abbruch, und ihre Augen verrieten, dass ihr Geist noch nicht gebrochen war.
Ein Gerichtsdiener führte sie zu dem Armsünderbänkchen und zwang sie, dort niederzuknien. Einen Augenblick lang sank sie insich zusammen, als habe sie alle Kraft verloren. Dann aber richtete sie sich auf und sah den Richter an.
»Ich erhebe Anklage«, rief sie mit bemerkenswert fester Stimme. »Diese drei Männer dort, Linhard, der Schreiber, Utz, der Fuhrmann, und der Büttel Hunold sind heute Nacht in meine Zelle eingedrungen und haben mir Gewalt angetan.«
Maries Vater sprang auf, als wolle er zu ihr eilen, sank aber mit einem Aufstöhnen in sich zusammen und griff sich an die Brust. Mombert hielt ihn fest und starrte Utz an, der in schallendes Gelächter ausbrach.
»Jetzt bist du wohl ganz durchgedreht, Mädchen. Gleich wirst du noch behaupten, der ehrwürdige Herr Richter hätte dich ebenfalls vergewaltigt.«
»Nein, Utz, dich klage ich an, dich und deine beiden Spießgesellen.« Sie neigte ihren Kopf vor dem Richter und sah ihn dann flehend an. »Ehrwürdiger Vater, ich spreche die Wahrheit. Linhard, Hunold und Utz haben mir heute Nacht mit roher Gewalt meine Unschuld genommen, um hier nicht falsch schwören zu müssen, und sie haben mich damit noch verhöhnt. Ich schwöre bei der Heiligen Jungfrau und dem Jesuskind, dass ich bis zu dieser Nacht noch unberührt gewesen bin.«
»Du wählst eine etwas eigenartige Form der Verteidigung.« Die Stimme des Richters klang zweifelnd. »Wenn du die drei Männer zu Unrecht beschuldigst, wird deine Strafe umso härter ausfallen.«
»Ich spreche die Wahrheit«, brach es aus Marie heraus. »Ich schwöre …«
Magister Ruppertus schnitt ihr das Wort ab. »Schwüre kommen den Weibern rasch von der Zunge, doch sie taugen selten etwas. Ehrwürdiger Vater, sollen wir uns noch länger anhören, wie diese Hure drei ehrenwerte Männer eines so schrecklichen Verbrechens beschuldigt, das nur die Diener des Höllenfürsten begehen könnten?«
»Dann sind diese drei eben Diener des Teufels!«, schrie Marie so laut, dass es von den Wänden widerhallte.
Magister Ruppertus winkte ab. »Ich fürchte, die Entlarvung ihres unsittlichen Lebenswandels hat dem Weib den Verstand geraubt. Oder sie ist bereits so durchtrieben, dass sie mit einer haltlosen Anklage von ihren eigenen Verbrechen ablenken will.«
Mombert sprang auf und funkelte den Magister zornig an. »Wer sagt Euch, dass ihre Anklage haltlos ist? Ich kenne Marie nur als frommes, gehorsames Kind, das kein falsches Wort im Munde führt.«
Ruppert schüttelte nachsichtig den Kopf. »Es ehrt Euch, Meister Mombert, dass Ihr Euch für Eure Verwandte verwendet. Doch sie hat ihre Verbrechen wohl kaum mit dem Mund begangen. Zumindest hoffe ich das für ihre arme Seele. Aber Ihr seid nicht der Hüter dieses irregeleiteten Geschöpfs gewesen. Ihr wart doch selbst dabei, als Utz Käffli und Linhard Merk uns gestern Abend glaubhaft versicherten, mit ihr Unzucht getrieben zu haben. Bei der Schwere ihres Vergehens ist es verständlich, dass sie versucht, die Schuld auf die beiden Männer abzuwälzen. Aber ihre Behauptung, sie habe ihre Unschuld erst in dieser Nacht und gegen ihren Willen eingebüßt, ist wirklich ein starkes Stück. Ich hoffe, der ehrwürdige Vater wird diese Unverfrorenheit in seinem Urteil berücksichtigen.«
»Mir wurde Gewalt angetan!«, schrie Marie auf. Aber selbst die, die es gut mit ihr meinten, streiften sie mit zweifelnden Blicken.
»Was ist mit dem Büttel?«, fragte Mombert. »Von ihm war gestern nicht die Rede.«
»Natürlich muss sie ihn ebenfalls beschuldigen. Wer außer ihm hätte Utz und Linhard den Schlüssel zum Kerker geben können? Ihr seht selbst, wie ruchlos und durchtrieben dieses Weib ist, ehrwürdiger Vater.« Rupperts letzter Satz galt dem Richter, der wortlos zustimmte.
»Wir werden die Wahrheit sogleich feststellen«, warf einer derBeisitzer ein. »Ich schlage vor, dass wir die Witwe Euphemia Schusterin befragen, ob sie die Angeklagte als Jungfrau angetroffen hat oder nicht.«
»Zuerst muss das Verfahren förmlich
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