Die Wanderhure
und trat auf Marie zu.Sein Gesicht wirkte mühsam beherrscht. Marie fühlte sich an die Worte des Württembergers erinnert und stellte die Stacheln auf. Was bildete Michel sich eigentlich ein? Sie war niemandes Besitz, und wenn er sich wie ein eifersüchtiger Liebhaber aufführen wollte, würden ihre Wege sich trennen müssen. Einerseits riss Michels Gegenwart immer wieder die alten Wunden ihrer Seele auf und ließ sie zänkisch werden wie ein altes Weib. Bei Fremden konnte sie vergessen, wer sie einst gewesen war, er aber präsentierte schon in seiner Erscheinung seinen Aufstieg und ihren Fall. Andererseits würde sie ihn ungern missen, denn er half ihr, wo er nur konnte, und seine regelmäßigen Besuche verliehen ihrem Haus und seinen Bewohnerinnen einen gewissen Schutz. Es gab hier wie überall unzufriedene Kunden und neidische Bordellwirte, aber bisher hatte es keiner von ihnen gewagt, einen Trupp Randalierer in ihr Haus zu schicken.
Sie schenkte Michel ein Lächeln, das zu ihrem geschäftlichen Repertoire gehörte. »Der Graf von Württemberg ist nun einmal ein fordernder Mann, und ich muss ihn mir um fast jeden Preis bei Laune halten, damit er mir zu meiner Rache verhilft und mich im schlimmsten Fall vor meinen Feinden schützt. Der kaiserliche Schutzbrief gilt zwar auch für uns Huren, aber er wird Ruppert nicht daran hindern, mich an den Schandpfahl zu bringen oder im See ertränken zu lassen.«
Der Ton ihrer Worte war eine Kampfansage, doch Michel wollte sich nicht darüber ärgern. »Das weiß ich, und ich verstehe dich auch. Trotzdem gefällt es mir nicht, dass du dich auf Gnade und Ungnade dem Württemberger verschrieben hast. Er ist auch nicht besser als die anderen hohen Herren. Wenn er sich einen Vorteil davon verspricht, dir zu helfen, wird er es tun, und wenn er es sich anders überlegt, lässt er dich fallen wie ein Stück Dreck.«
»Danke, dass du mir mal wieder erklärt hast, was ich wert bin«, fauchte Marie ihn an und brach unvermittelt in Tränen aus.
Sie wollte sich nicht mit Michel streiten und wusste auch, dass er mit dem Wort Dreck nicht sie persönlich gemeint hatte. Trotzdem hatte er ihr schon wieder vor Augen geführt, welch schmutzigem Stand sie angehörte. Konstanz war kein gutes Pflaster für sie. Hier wurden Huren beinahe wie ehrbare Frauen behandelt. Man spie nicht vor ihnen aus, wenn sie durch die Straßen liefen, ließ es ihnen durchgehen, wenn sie ohne ihre Standesabzeichen auftraten, und verschloss auch die Pforten der Kirchen nicht vor ihnen, wie es in vielen anderen Städten der Fall war.
Abgesehen von dem einen Mal auf Burg Arnstein hatte Marie nie mehr wirklich andächtig gebetet, sondern oft an ihrem Glauben gezweifelt. Jetzt aber empfand sie das Bedürfnis, ihre Sorgen der Heiligen Jungfrau zu Füßen zu legen und sie um Hilfe für ihre Verwandten zu bitten. Sie blickte hoch und sah den Turm von St. Stephan über die nahen Dächer aufragen. Dort hatte sie als junges Mädchen oft den Gottesdienst besucht. Sie beschleunigte ihren Schritt und bog in die Gasse ein, die zur Kirche führte.
Michel folgte ihr verärgert. »He, wo willst du denn jetzt schon wieder hin? Das ist nicht der Weg zu deiner Hütte.«
»Ich will in St. Stephan ein Gebet sprechen.« Marie kümmerte sich nicht um Michel, der wie ein Schatten an ihrer Seite blieb, sondern ging einfach weiter. Vor dem Kirchenportal holte sie erst einmal tief Luft und sah sich um. Da ihr niemand den Eintritt verwehrte, trat sie kurz entschlossen ein.
Eine kühle Dämmerung empfing sie. Es war gerade hell genug, um die wuchtigen Säulen und die Wände des Kirchenschiffs erkennen zu können. Die hohen Fenster wirkten wie von hinten erleuchtete Glasbilder und ließen nur wenig Tageslicht herein. Die brennenden Kerzen vor den drei Altären bildeten Inseln der Zuflucht, die von der Farbenpracht der Heiligenstatuen und Gemälde erfüllt waren.
Marie schlug um den dem heiligen Stephanus geweihten Hauptaltar einen Bogen und trat vor die Pieta, die Maria mit dem vomKreuz abgenommenen Christus darstellte. Hier gab es auch eine Statue der heiligen Maria Magdalena. Sie wirkte eher unauffällig und war so klein, dass sie im doppelten Sinne im Schatten der Gottesmutter stand.
Marie fragte sich, weshalb eine Hure eine so große Rolle im Leben Jesu gespielt hatte. Wahrscheinlich nur deswegen, weil der Sohn Gottes sich immer der Verachteten und Unterdrückten angenommen hatte. Aber davon wollten vollgefressene Kirchenmänner wie Abt
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