Die Wanderhure
Hugo von Waldkron nichts mehr wissen. Marie versuchte, ihre rebellischen Gedanken zum Schweigen zu bringen und sich an das richtige Gebet zu erinnern.
Michel stand ein wenig abseits an einer Säule und behielt das Kirchenschiff im Auge. Doch außer ein paar alten Frauen, die müde vom Leben im Kirchengestühl hockten, war niemand zu sehen. Er betrachtete die vor dem Altar kniende Marie, deren blondes Haar im Licht der Kerzen glänzte und ihren Kopf wie ein Heiligenschein umspielte. Für einen Augenblick stellte er sich vor, wie es wäre, wenn er sie als Mätresse auf einem Kriegszug mitnehmen würde. Hier in dieser überlaufenen Stadt fühlte er sich angehängt wie ein Hofhund und reagierte deswegen viel zu gereizt auf Maries Launen.
Er schreckte aus seinen Gedanken hoch, als eine Nebenpforte aufging und jemand eintrat. Michel musterte den Neuankömmling und lehnte sich beruhigt wieder zurück. Es war nur ein hagerer Mönch im schäbigen Habit eines Franziskaners, der wohl zu dem nahe gelegenen Barfüßerkloster gehörte. Er beugte mit gesenktem Kopf sein Knie und schlurfte dann wie ein Greis Richtung Marienaltar. Michel nahm ein vom vielen Fasten ausgezehrtes Gesicht wahr und roch den süßlichen Geruch von Blut. Der Mönch musste sich erst vor kurzem kasteit haben. Nun warf er sich vor der Pieta zu Boden und störte damit Maries leise Zwiesprache mit der Gottesmutter und der Schutzpatronin der Huren.
Marie stand auf, trat zwei Schritte zur Seite und wollte noch ein letztes Gebet sprechen. Da sah der Mönch zu ihr auf und streckte abwehrend die Hände aus. Sein Gesicht verzerrte sich, als erleide er Höllenqualen.
»Weiche von mir, Geist, und quäle mich nicht auch noch an dieser heiligen Stelle.«
Marie starrte den Mönch verwirrt an. Sie fühlte sich von ihm abgestoßen und belästigt, obwohl er ihr doch nicht zu nahe getreten war. Er richtete sich auf und machte das Zeichen gegen die Dämonen. Erst in dem Moment erkannte sie ihn an seinen blassen Augen.
»Linhard! Du elender Verräter!« Es lag so viel Hass in ihrer Stimme, dass der Mann in sich zusammenkroch und näher an den Altar heranrutschte. Jetzt schien er aber zu erkennen, dass er kein Spukbild vor sich hatte, sondern einen Menschen aus Fleisch und Blut.
»Wer nennt mich bei diesem Namen, den ich längst begraben und vergessen habe?« Dann wurde er so bleich, wie Marie es noch nie bei einem Menschen beobachtet hatte. »Bist du es? Bist du wirklich Marie Schärerin, die Tochter von Meister Matthis?«
Marie sah auf den Mann herab, den sie am liebsten wie einen ekelhaften Wurm zertreten hätte, und wollte ihm schon ihre ganze Verachtung ins Gesicht schleudern. Gerade noch rechtzeitig erkannte sie die Gefahr, in der sie schwebte. Wenn Linhard seine Begegnung mit ihr den falschen Leuten erzählte, war ihr Leben keinen Haller Pfennig mehr wert. Mit der Selbstüberwindung, die das harte Leben auf der Straße sie gelehrt hatte, zwang sie sich, eine gleichmütig freundliche Miene aufzusetzen.
»Ich weiß nicht, was Ihr von mir wollt, ehrwürdiger Bruder. Mein Name ist Berta, und ich habe Euch nie zuvor gesehen.«
Sie bekreuzigte sich mit einem hastig gemurmelten Amen, knickste noch einmal vor der Gottesmutter und ging dann Richtung Pforte. Sie musste sich fast mit Gewalt daran hindern, zurückzublicken, denn sie hatte das Gefühl, Linhards Blicke würden sich wie glühende Kohlen in sie hineinfressen. An der Tür drehte sie sich doch noch einmal kurz um und tat so, als wolle sie nur Michel zuwinken. Linhard stand mit dem Rücken zum Altar und hielt die rechte Hand halb nach ihr ausgestreckt. Als er sah, dass sie sich einem Mann zuwandte, schlug er das Kreuz und warf sich erneut vor dem Gnadenbild zu Boden.
Michel trat neben Marie ins Freie und sah sie fragend an. Als er bemerkte, wie sie zitterte, legte er die Arme um sie und hielt sie fest. »Was war denn los?«
Ihre Zähne klapperten so, dass sie kaum sprechen konnte. »Der Mönch! Es … war Linhard. Er hat mich erkannt.«
Michel sah das Entsetzen in ihrem Blick und wusste, dass die einst erlittenen Demütigungen und Schmerzen wieder in ihr hochstiegen und sie quälten. Aber er konnte nichts anderes tun, als sie zu stützen und wie eine Kranke durch die Straßen zu führen. Am liebsten hätte er sie aus Konstanz fortgeschickt, denn jetzt war sie hier wirklich nicht mehr sicher. Er überlegte auch schon, Linhard in einer dunklen Gasse aufzulauern und ihm das Genick zu brechen, damit er Marie nicht
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